Öffentlicher Nahverkehr:Die Fahrkarten bitte

Fahrschein-Kontrolle

Wenn die Kontrolleure auftauchen, ändert sich die Atmosphäre im Wagen oft schlagartig. Das Foto zeigt eine Szene aus Hannover.

(Foto: Holger Hollemann/picture alliance/dpa)

Etwa 3,5 Prozent der Fahrgäste im ÖPNV sind ohne Ticket unterwegs. Ein Tag in Nürnberg zeigt: Den typischen Schwarzfahrer gibt es nicht.

Von Theresa Tröndle

"Bitte zurücktreten", hallt es über den Bahnsteig. Zschhh. Klack. Die Türen der U2 Richtung Röthenbach schließen. Die Bahn fährt ab. In ihrem Inneren suchen sieben Männer und Frauen unauffällig Blickkontakt. Außenstehenden fällt ihre Verbindung nicht auf. Kaum hat sich die Bahn in Bewegung gesetzt, legen sie los.

"Schönen guten Tag. Fahrscheinkontrolle. Die Fahrkarten, bitte." Schlagartig ändert sich die Atmosphäre: Menschen schrecken von ihren Handys hoch, beginnen nervös in ihren Taschen zu wühlen, zücken ihre Geldbeutel. Für Anita B. und ihr Team muss es jetzt schnell gehen. Bis zur nächsten Station bleibt nur eine Minute. Eine junge Frau sieht sich panisch um. Sie bewegt sich in den hinteren Teil des Waggons. Zu spät: B. wittert ihr Vorhaben. "Viele versuchen, sich an uns vorbeizuschlängeln." An der nächsten Haltestelle steigt sie mit der Frau aus. Die fühlt sich sichtlich unwohl, stammelt von einer "Katastrophe". Mit zitternden Fingern nimmt sie die Beanstandungskarte entgegen. Eine Woche hat sie nun Zeit, das erhöhte Beförderungsentgelt von 60 Euro zu bezahlen.

Rund zwei Prozent aller kontrollierten Fahrgäste sind in Nürnberg ohne gültiges Ticket unterwegs. 25 000 waren es 2017. Armut, Eile, Vergesslichkeit, undurchsichtige Tarifsysteme oder Ärger über zu hohe Preise - es gibt viele Gründe. Was die wenigsten wissen: Für Schwarzfahren kann man ins Gefängnis wandern. Während dies in den Augen der Fahrgastverbände und der Justiz nicht angemessen ist, sträuben sich Bus- und Bahnbetreiber gegen das Vorhaben, Schwarzfahren von einer Straftat zu einer Ordnungswidrigkeit herabzustufen.

Knapp 350 Millionen Euro Verlust

Von den zehn Milliarden Fahrgästen, die jährlich den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) nutzen, sind 3,5 Prozent ohne gültigen Fahrschein unterwegs. Dadurch verlieren die Verkehrsverbünde rund 350 Millionen Euro, so der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV).

Juristisch gesehen begeht jeder, der schwarzfährt, laut Paragraf 265a des Strafgesetzbuches eine Straftat. Für das "Erschleichen von Leistungen" drohen Geldstrafen oder Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr. Lässt man sich dabei erwischen, wird zunächst ein erhöhtes Beförderungsendgeld fällig. Mehrfachtäter müssen aber damit rechnen, dass sie vor Gericht landen, denn die meisten Verkehrsbetriebe zeigen Schwarzfahrer nach dem dritten Mal an.

Nicht zuletzt, um die Justiz zu entlasten, regte der Deutsche Richterbund (DRB) an, Schwarzfahren als Tatbestand im Strafgesetzbuch zu überprüfen. Ähnliches hatten bereits der nordrhein-westfälische Justizminister Peter Biesenbach (CDU) und Berlins Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) vorgeschlagen. Trotz Personalknappheit habe es die Berliner Justiz jährlich mit rund 40 000 Fällen von Schwarzfahrten zu tun, sagt der DRB-Vorsitzende Jens Gnisa. "Die Dinge passen da nicht zusammen."

Wer seine Geldstrafe nicht bezahlen kann oder will, muss als Ersatz dafür ins Gefängnis. 4563 Personen mussten 2016 in Niedersachsen wegen Erschleichens von Leistungen eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe absitzen. "Die kurzen Freiheitsstrafen und die damit entstehenden Haftkosten stehen häufig nicht im Verhältnis", sagt Marika Tödt, Sprecherin des niedersächsischen Justizministeriums. Jeder Gefangene kostet täglich etwa 150 Euro.

Nicht alle Schwarzfahrer haben böse Absichten

Aber nicht alle Schwarzfahrer haben böse Absichten: undurchsichtige Tarifsysteme oder kaputte Automaten - wer am Ticketkauf scheitert, fährt schnell ungewollt schwarz. Diese Menschen strafrechtlich zu verfolgen, sei unangebracht, meint der Fahrgastverband Pro Bahn. Auch solche Fälle müssen Anita B. und ihre Kollegen festhalten. Meist versehen sie die Beanstandung dann aber mit einer Bemerkung, in der sie die Situation schildern. In der Nachbearbeitung könne dann anders reagiert werden. "Wir sehen uns als Servicemitarbeiter, auch wenn wir Fahrkarten prüfen", sagt B., als sie einen jungen Mann zum Automaten begleitet und ihm erklärt, wie er das richtige Ticket löst.

Die Betreiber von Bussen und Bahnen sind dagegen, aus der Straftat Schwarzfahren eine Ordnungswidrigkeit zu machen. Das Argument, die Behörden zu entlasten, ließ VDV-Hauptgeschäftsführer Oliver Wolff nicht gelten. Bundesweit saßen laut Verband nur knapp drei Prozent der angezeigten Personen wegen Schwarzfahrens in Haft. Von überbelasteten Gerichten oder Gefängnissen könne keine Rede sein. "Die Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit führt eher dazu, dass auf einmal die Ordnungsämter der Kommunen einen deutlichen Zuwachs an Verwaltungsaufwand hätten", sagt Wolff.

Auch die diskutierten Zugangssperren, wie sie zuletzt NRWs Justizminister Peter Biesenbach (CDU) vorschlug, hält der Verband nicht für sinnvoll, da sie an Bus- und Straßenbahnhaltestellen schwer umsetzbar seien. Fahrgäste mit Kinderwagen oder Rollstuhlfahrer bräuchten extra Durchgänge und Mitarbeiter, um sie zu öffnen. Derart aufwendige und teure Baumaßnahmen seien übertrieben, denn immerhin sind 96,5 Prozent der Fahrgäste ehrlich unterwegs, so der Verband.

Es wäre falsch und kontraproduktiv, Schwarzfahren zur Ordnungswidrigkeit abzumildern, heißt es auch bei der Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG). Im Grunde sei es ganz einfach: "Wer eine Leistung in Anspruch nimmt, der muss dafür zahlen." Genauso, wie ein Frisör nach dem Haarschnitt für seine Dienstleistung bezahlt wird. "Es wäre ein Drama, wenn Schwarzfahren zur Ordnungswidrigkeit wird, weil das Kontrollpersonal dann Schwarzfahrer, die sich nicht ausweisen wollen, nicht mehr festhalten darf", sagt Eduard Imblon, Leiter der Einnahmensicherung bei der MVG und langjähriger Kontrolleur. Noch kann gemäß dem Jedermannsrecht in der Strafprozessordnung jeder einen Täter festhalten, wenn er ihn auf frischer Tat ertappt. Ein Recht, das bei einer Ordnungswidrigkeit verloren geht. Auch die abschreckende Wirkung einer möglichen Haftstrafe hält Imblon für sehr wichtig.

Anders sieht dies die Frankfurter Mobilitätsforscherin Stefanie Schwerdtfeger. "Viele Menschen wissen gar nicht, dass man fürs Fahren ohne Fahrschein ins Gefängnis kommen kann." Personen, die bewusst ohne gültiges Ticket fahren, wägen das Risiko, erwischt zu werden, mit dem Gewinn ab, sind mit dem System unzufrieden oder haben nicht genug finanzielle Mittel. Insbesondere die letzte Gruppe zeige: "Schwarzfahren ist ein verkehrspolitisches Problem, das nicht mit der sozialen Frage verknüpft wird."

"Schwarzfahrer sind auch diejenigen, die es sich leisten können"

Zurück in Nürnberg: In der U2 wird es voller. Die Schule ist zu Ende. Anita B.s nächste Kandidatin ist eine ältere Dame in Türnähe. Sie trägt feine Lederhandschuhe und einen pelzbesetzen Mantel. Die 3,10 Euro für einen Einzelfahrschein hat sie sich trotzdem gespart. B. nimmt ihre Daten auf, ein Kollege überprüft sie telefonisch. Eine Erklärung legt sie nicht ab, ebenso wenig ihre Sonnenbrille.

"Den klassischen Schwarzfahrer gibt es nicht. Aber es sind auf jeden Fall auch diejenigen, die es sich leisten können", sagt B. Ihre Schicht endet um 14 Uhr. Die Bilanz nach acht Stunden Kontrolle: 52 Schwarzfahrer. Die Überraschung: keine Beleidigungen oder Übergriffe. Das liege an der Tageszeit, nachts gehe es ohne die "23", dem Codewort für die Polizei, nicht.

Das Problem des Schwarzfahrens wäre gelöst, sollte der Nahverkehr tatsächlich kostenfrei werden, wie es aktuell in der politischen Diskussion ist. Bleibt die Frage, wer das bezahlen soll.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: