Nahverkehr:In New York fährt eine der ältesten und marodesten U-Bahnen

Nahverkehr: In keiner anderen Metropole fahren ältere U-Bahnen als in New York.

In keiner anderen Metropole fahren ältere U-Bahnen als in New York.

(Foto: AP)

Eine Fahrt mit der New Yorker U-Bahn ist ein Abenteuer. Es ist gnadenlos heiß und jede Kurve führt zu blauen Flecken. Trotzdem lieben die New Yorker ihre klapprigen Züge.

Von Johanna Bruckner, New York

Die New Yorker U-Bahn-Linie C hat an diesem Montag viel gemein mit einem vom Wochenende erschöpften Arbeitnehmer. Die Klimaanlage im Waggon pfeift bereits zur Mittagszeit aus dem letzten Loch. Es riecht nach gewaschener Wäsche. Allerdings nicht von der duftenden Sorte, sondern von der, die schon einen Tag in der Maschine vor sich hin gegammelt hat. Gut, der Big Apple erlebt in diesen Tagen die erste Hitzewelle des Sommers. Aber Temperaturen von mehr als 30 Grad Celsius sind nicht das einzige Problem des Schienennahverkehrs in New York. Ausgerechnet jene Stadt, deren Skyline von Ingenieurskunst und baulicher Innovation zeugt, versagt unterirdisch in Sachen Modernisierung komplett.

Viele Gleise sind nicht erst seit Hurrikan Sandy marode. Doch während ihr Zustand im Dunkel der Tunnel weitgehend verborgen bleibt, ist der voranschreitende Verfall beim Fuhrpark für New Yorker wie Touristen deutlich sichtbar. Zum Beispiel auf der Linie C, die Manhattan und Brooklyn verbindet: Die Züge, die da über die Gleise rumpeln, sind mehr als 50 Jahre alt. Damit gehören sie zu den ältesten, die weltweit im täglichen Einsatz sind.

Viele Waggons erinnern an verbeulte Blechbüchsen

Die sogenannten Brightliner waren einmal der ganze Stolz der New Yorker U-Bahn: Als die ersten im September 1963 in die Station Grand Central einfuhren, wurden sie dort von einer 20-köpfigen Blaskapelle begrüßt. Spitzname und zeremonielles Tamtam kamen nicht von ungefähr: Die Züge, Techniker bezeichnen den Typ mit R 32, waren die ersten aus rostfreiem Stahl, die in Massenproduktion für den New Yorker Nahverkehr gefertigt wurden. Heute allerdings erinnern viele Waggons an verbeulte Blechbüchsen. Komfort und Fahrgefühl sind dementsprechend.

Das fängt schon bei den Sitzkapazitäten an: Entlang den Waggonseiten ziehen sich Sitzschalen aus hellblauem Hartplastik - doch deren Anzahl spricht dafür, dass die Planer des Brightliner nie an jene Menschenmassen dachten, die heute zu Spitzenzeiten in die Waggons drängen. Wer zu langsam oder zu zögerlich beim Ellenbogeneinsatz ist, muss stehen. Halteschlaufen für kleinere Menschen fehlen. Die müssen gerade in Brooklyn darauf hoffen, dass sie so eng eingequetscht sind, dass Umfallen unmöglich ist - denn selbst auf freier Strecke liegt die U-Bahn selten ruhig im Gleis. Tatsächlich fühlt man sich mitunter an eine Fahrt mit der Rummelattraktion "Wilde Maus" auf dem Münchner Oktoberfest erinnert: ruckartiges Anfahren, holpriger Mittelteil mit bedenklichen Neigungen, abruptes Abbremsen. Da wird der Reparaturbedarf am Gleisbett spürbar.

Forscher fanden Beulenpest an den Haltegriffen

Selbst wer mit den Fingerspitzen die silberne Haltestange umkrallt, ist nicht außer Gefahr. Forscher des Weill Cornell Medical College fanden daran in einer Langzeitstudie sogar Partikel des Milzbranderregers und der Beulenpest, wenngleich die Wissenschaftler betonten, dass die Erreger nicht ansteckend gewesen seien. Besonders die Brightliner sind als Bakterienherd prädestiniert: Sie halten im Sommer ein feuchtwarmes Klima bereit - noch so eine Alterserscheinung. Es gibt zwar Klimaanlagen in den Zügen, die sind jedoch mittlerweile so anfällig, dass der Betreiber, die Metropolitan Transportation Authority (MTA), im Sommer 2011 umplanen musste. Um die jahrzehntealten und schwer zu reparierenden Anlagen zu entlasten, fuhren die Brightliner nicht mehr auf der unterirdisch verlaufenden Linie C. Stattdessen bedienten sie die Linie J, die in Richtung Queens auf einer Hochtrasse verläuft. Frischluft statt gefilterter Luft - eine mittelalterlich anmutende Lösung.

Jede andere Stadt hätte diese abgekämpften Arbeitnehmer längst in den verdienten Ruhestand geschickt. Nicht so New York. Hier fahren die Brightliner weiter - so lange sie eben fahren. Alle 54 000 Kilometer ist ein Zug vom Typ R 32 im Durchschnitt defekt. Das mag erst einmal nach einer passablen Bilanz klingen, aber zum Vergleich: Über alle Modelle hinweg fährt ein Zug der New Yorker U-Bahn im Schnitt etwa 646 700 Kilometer ohne größere Auffälligkeiten. Die neuesten Waggons kommen sogar auf 1,1 Millionen Kilometer. Wenn ein Zug tatsächlich auf der Strecke liegen bleibt, kann das im schlechtesten Fall zu Behinderungen und Verspätungen in größeren Teilen des U-Bahn-Netzes führen. "Under construction" ist deshalb ein Dauerzustand im New Yorker Nahverkehr - und zugleich Teil des Problems.

Am Wochenende wird geflickt

Vor allem am Wochenende wird unter der Erde geflickt und gewerkelt. Manchmal bleiben nur einzelne U-Bahn-Stationen geschlossen, oft gehen jedoch ganze Linien zumindest abschnittsweise vom Netz. Von der Upper West Side an einem Samstag oder Sonntag zum Brunch ins East Village? Oder zum Shopping von Brooklyn nach Manhattan? Kann locker mehr als eine Stunde dauern. Und all das, um ein System am Leben zu erhalten, dass laut New York Times "am Rande eines Kollaps" steht. Das dringend grundlegend saniert, vielleicht sogar neu gedacht werden müsste.

Richard Barone, Vize-Präsident der Regional Plan Association, einer gemeinnützigen Organisation für Stadterhaltung, macht das am Beispiel der Züge deutlich: Auch in anderen Städten bestehe der öffentliche Fuhrpark aus alten und neuen Loks und Waggons. Allerdings sei man anderswo besser darin, die Züge aufzuarbeiten. Dort würden im Laufe der Jahre sämtliche Teile ausgetauscht, die Züge quasi Stück für Stück neu gebaut. Die MTA habe dagegen immer nur das Teil ersetzt, das gerade den Dienst aufgegeben habe.

Bei den neuen Waggons gab es auch Probleme

Inzwischen setzt bei den New Yorker Verkehrsbetrieben ein Umdenken ein. Die MTA hat ihr Budget angesichts der nötigen kurzfristigen und langfristigen Maßnahmen jüngst auf 32 Milliarden US-Dollar aufgestockt. Und New Yorks Gouverneur Andrew Cuomo hat einen mit einer Milliarde Dollar dotierten Wettbewerb ausgerufen - er hofft auf "schnelle und zugleich effiziente Lösungen".

Für die Brightliner kommt der Paradigmenwechsel zu spät: 2012 gewann das kanadische Unternehmen Bombardier die städtische Ausschreibung für 300 neue Züge. Das Auftragsvolumen damals: 600 Millionen US-Dollar. Die ersten Probleme gab es Anfang 2014, als Ingenieure feine Risse in Schweißverbindungen entdeckten. Die Produktion ruhte für ein Jahr, bis die Ursache gefunden war. Doch schon zur Jahresmitte 2015 gab es die nächste Unterbrechung: Dieses Mal wurden Fehler an der Radanlage entdeckt, die von einem Zulieferer kam. Der Zeitplan geriet um ein weiteres Jahr ins Hintertreffen. Mittlerweile hat Bombardier zehn Probefahrzeuge geliefert - doch in ganz New York ist nur eine einzige Testanlage in Betrieb, um die neuen Wagen allen nötigen Stresstests zu unterziehen.

Der New Yorker liebt seine U-Bahn trotzdem

Kurzum: Wohl frühestens 2019 werden die neuen Züge auf die Schienen kommen. Wobei der New Yorker stadtplanerischen Murks ähnlich gleichmütig nimmt wie die regelmäßigen Wartezeiten am Gleis, etwa dann, wenn ein Regenschauer mal wieder einen Tunnel unter Wasser gesetzt hat. So war die Freude groß, als im Januar die ersten drei Stopps der neuen U-Bahn-Strecke entlang der Second Avenue eingeweiht wurden. Und dass, obwohl es erste Ideen für einen Ausbau des U-Bahn-Netzes schon im Jahr 1919 gegeben hatte und eine Schienenmeile im Durchschnitt 2,23 Millionen Dollar verschlungen hatte.

Der New Yorker liebt seine U-Bahn trotz allem - oder begegnet ihr zumindest mit freundlicher Resignation. Mancher wird vielleicht auch um die Brightliner trauern, wenn sie ihre letzte Fahrt angetreten haben. Wobei das trotz der in der Produktion befindlichen neuen Konkurrenz noch dauern könnte: Wenn die MTA 2019 einen Tunnel unter dem East River schließt - und damit vorübergehend die beliebte Linie L einstellt -, werden Zehntausende Pendler auf andere Routen ausweichen müssen. Dann, so mutmaßt die New York Times, könnte das treue "Arbeitspferd" aus rostfreiem Stahl doch noch mal gebraucht werden.

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