Neue Mercedes S-Klasse:Stand der Technik

S-Klasse

So wird die neue Mercedes S-Klasse aussehen.

(Foto: Dieter Rebmann/Mercedes)

Jede neue Mercedes S-Klasse zeigte, was im Automobilbau gerade möglich ist. Jetzt gibt sich die Luxuslimousine moderner denn je: Sie bildet automatisch Rettungsgassen und zahlt per Fingerscan im Parkhaus.

Von Georg Kacher

Gleich scheppert's - wetten, dass? Jürgen Weissinger macht im leeren Parkhaus vor dem Mercedes-Kundencenter nämlich einen auf Lewis Hamilton. Mutige Anfahrt zur ersten Rampe, kurz lupfen, ohne auszuholen, scharf einlenken, mit 40 Sachen links hochbrettern und dann dasselbe gleich nochmal, Wende auf Wende, bis unters Dach. Sechsmal fast berührt, sechsmal ist nichts passiert. Warum hat es nicht gekracht? Weil der schwere Wagen trotz um 71 Millimeter längerem Radstand erstmals mit einer Hinterachslenkung bestellt werden kann, die bis 60 km/h einen Lenkwinkel von maximal zehn Grad zulässt. "Damit ist unser Topmodell künftig so wendig wie eine A-Klasse", sagt der grinsende Weissinger freudig über 500 Versuchs- und Vorserienfahrzeuge. Fast noch mehr als der um knapp zwei Meter reduzierte Radius verblüfft das vom Einlenken der Vorderachse ausgelöste Ausscheren des Hinterwagens, der so jeden Bordstein elegant umzirkelt. "Wenn's vorne Luft hat, dann passiert auch hinten nichts." Stimmt. Der große Benz meistert ohne Rangiermanöver selbst enge Parklücken - auf Wunsch sogar vollautomatisch oder mit programmierter Hol- und Bring-Funktion als Ersatz für den Valet-Service aus Fleisch und Blut.

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Die absolut synchrone Mimik ist ganz ohne Eigendynamik und Phasenverschiebung stets voll im Fluss. Die günstigere Version beschränkt den Lenkwinkel auf 4,5 Grad, beide Varianten wechseln bei Tempo 60 unmerklich vom gegensinnigen zum gleichsinnigen Einschlag. Der verbessert die Richtungsstabilität bei Ausweichmanövern und bei hohem Tempo. Abgesehen von der Vierradlenkung ist unsere Demo-Limousine eher schlicht ausgestattet: kurzer Radstand statt Langversion, Reihensechser statt V 8, Luftfederung statt Hydropneumatik alias E-Active Body Control. Dieses High-Tech-Gerät bedient sich mehrerer Kameras, mehr als 20 Sensoren und diverser Pumpen, um die Federbeine für einen Sekundenbruchteil kurz anzuheben, bevor die von der Adlerauge-Optik erkannte Unebenheit das Komforterlebnis schmälern könnte. Dynamiker sollten alternativ die Curve-Funktion ausprobieren, die das Auto animiert, sich in die Kurve zu legen und so die Fliehkräfte teilweise zu neutralisieren. Die vielseitig verstellbaren Multifunktionssitze komplettieren das Wohlfühlerlebnis.

Mit dem Baumuster W 223 ist jetzt auch Mercedes endgültig in der digitalen Welt angekommen. Das Zentralinstrument vermittelt seine Botschaften auf Wunsch in 3D-Grafik, das Head-up Display projiziert erweiterte Inhalte direkt auf die Straße und damit ins unmittelbare Blickfeld des Fahrers, der riesige Touchscreen in der Mittelkonsole steuert in Kombination mit den Lenkradtasten die komplexe Bedienung. "Wir haben 27 Einzelelemente gestrichen und so das Cockpit deutlich entschlackt", sagt der Projektleiter. Was er nicht sagt: Gefühlt sind 1000 neue Funktionen dazugekommen, die sich zumindest teilweise per MBUX-Sprachsteuerung aktivieren lassen. Trotzdem sind die in einer schmalen Touchleiste zusammengefassten fitzeligen Icons weit weniger intuitiv greifbar als die guten alten Drehknöpfe für laut/leise und warm/kalt. Keine Frage: Dieses Auto verdient eine gründliche Einführung - und verlangt vom Nutzer, sich intensiv mit der neuen Welt auseinanderzusetzen. Wer dazu bereit ist, kann (wo es erlaubt ist) sogar auf Level-3-Niveau autonom fahren, Maut oder Parkgebühr per Fingerabdruckscanner ad hoc online begleichen, den Lenkassistenten eine Rettungsgasse bilden lassen und mit dem Ultra Range-Fernlicht die Nacht zum Tag machen.

Die neue S-Klasse gibt es zur Erstauslieferung im November wieder als Diesel (S 350 d, S 400 d) sowie als Benziner mit sechs (S 450, S 500) und acht Zylindern (S 580). Nächstes Jahr wird es einen Plug-in-Hybrid mit 100 Kilometern elektrischer Reichweite geben. Das 48-Volt-System des serienmäßigen Mild Hybrid ist mit einem Starter-Generator kombiniert, der bei Bedarf 22 Zusatz-PS bereitstellt. Der elektrisch unterstützte 3,0 Liter-Reihensechszylinder des S 500 ist mit 435 PS so stark wie vor noch vor wenigen Jahren der bullige V8. Doch nicht nur die Leistung an sich beeindruckt. Auch die homogene Kraftentfaltung, die in Watte gepackten Hochschaltrucke und der ebenso leise wie vibrationsarme Motor sammeln Punkte. In langsamen Kurven gibt der Chauffeur per Bremse und Schaltpaddel den Takt vor, doch größere Radien animieren wie von selbst dazu, den windschnittigen (cW-Wert 0,22) Viertürer im großen Gang an der langen Leine zu führen. Fahrgeräusche filtert dieser Mercedes so nachhaltig weg wie ein guter Kopfhörer, und auch den Federungskomfort haben die Techniker in Richtung Perfektion weiterentwickelt. Was nach der Erstbesteigung des Beifahrersitzes im Gedächtnis bleibt, ist dieser spezielle, in sich gefestigte und trotzdem dynamische Schwebezustand zwischen abgehoben und erdverbunden, der Irritationen gekonnt herausfiltert, ohne den Fahrbahnkontakt zu schmälern.

Digitalisierung auf der Höhe der Zeit

Jürgen Weissinger serviert Innovationen im Minutentakt: mal ist es das flackernde Ambientelicht in der Türtafel, sobald sich beim Aussteigen von hinten Verkehr nähert; mal ist es das Heckrollo, das sich automatisch absenkt, wenn der Fahrer beim Zurückstoßen den Kopf dreht; mal ist es die Notbremsfunktion, die im Rückwärtsgang vor Parkremplern bewahrt. Auch das Virtual-Reality-Head-Up -Display hat es dem Hüter der S-Klasse angetan: "Die Darstellung der Assistenzsysteme und Navigationsinhalte verschmilzt praktisch mit dem Vorfeld des Fahrzeugs. Mitlaufende blaue Pfeile unterstützen beim Spurwechsel, auf Kreuzungen und vor Abzweigungen." Die neue S-Klasse kann sich fünf verschiedene Fahrerprofile merken, sie ordnet Sprachbefehle ("Massage, bitte") sitzgenau zu, und sie kann unterschiedliche Instrumenten-Grafiken von sportlich-digital bis klassisch-analog einspielen. Die Gurtschlösser sind auf Wunsch beleuchtet, in die Gurte selbst sind schlanke Airbags eingelassen, die Fondpassagiere genießen neben den Sidebags zusätzlichen Schutz in Form von aufblasbaren Prallsäcken, die bis zum Tag X in den Vordersitzlehnen schlummern.

Mercedes will zwar erst zur Weltpremiere im September alle Karten auf den Tisch legen, doch schon der erste Ausflug mit dem fast ungetarnten Dickschiff hat gezeigt, dass der Marktführer sämtliche Register gezogen hat, um den Wettbewerb auch in Zukunft zu beherrschen. Das Design gefällt, die längeren Radstände schaffen ein noch souveräneres Raumgefühl, die Hinterachslenkung macht den Fünfsitzer konkurrenzlos manövrierfähig, die Digitalisierung ist auf der Höhe der Zeit, der überragende Komfort braucht keinen Vergleich zu scheuen.

Während man sich fragen kann, ob Mercedes die neue T-Klasse auf Renault-Kangoo-Basis wirklich braucht (Daimler-Chef Ola Kallenius: "Wir fokussieren uns künftig verstärkt auf das Luxus-Segment"), hätte die neue S-Klasse durchaus Ausbaupotenzial. Etwa ein viertüriges Coupé als Ersatz für CLS und AMG GT4 oder die Neuauflage der legendären viersitzigen Coupés und Cabrios aus den Sechzigerjahren - doch der Vorstand hat leider längst anders entschieden und genau dort den Rotstift angesetzt, wo in der Vergangenheit das große Geld verdient wurde.

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