Mensch und Verkehr:Die Asphaltflüsterer

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Die Blechflut macht den Straßenverkehr heute zu einer der Hauptlärmquellen. (Foto: dpa)

Alle reden von einer Verminderung des Straßenlärms, doch das Verkehrsaufkommen steigt weiter. Neue Straßenbeläge versprechen Linderung, halten den Automassen aber nicht Stand. Und müssen alle paar Jahre erneuert werden.

Von Joachim Becker

Alles im Namen des Fortschritts: "Ein aufheulendes Auto ist schöner als die Nike von Samothrake", skandierte Tommaso Marinetti 1909. Im Manifest des Futurismus feierte er die neue Schönheit der Geschwindigkeit. Er bejubelte Rennwagen mit explosivem Atem, stampfende Lokomotiven und Flugzeuge, "deren Propeller wie eine Fahne im Winde knattert und Beifall zu klatschen scheint wie eine begeisterte Menge". Treffender konnte man das aufziehende Jahrhundert der Mobilität kaum bejubeln. Wer hätte vor hundert Jahren schon geglaubt, dass heute mehr als eine Milliarde Autos über den Planeten rasen? Pro 1000 Einwohner gibt es in Deutschland mittlerweile 631 Pkw - Tendenz steigend.

Als die motorisierten Räder laufen lernten, konnten sich nur wenige die Privilegien einer neuen Zeit leisten. Auch wenn die ersten Autos, Schnellzüge und Flugzeuge allenthalben für Aufregung sorgten, wurde ihr Lärm meist als Pulsschlag einer besseren Zukunft willkommen geheißen. Doch je mehr Menschen die Freiheit der motorisierten Bewegung auskosten wollten, desto mehr entwickelte sich der zunehmende Krach zum Fluch des Fortschritts.

Geburtsrecht auf Stille für ein Auto verkauft

In den großen Städten gingen die Menschen schon früh gegen die permanente Kakofonie aus Hupen, quietschenden Reifen, Bremsenkreischen und kaum gedämmten Explosionsmotoren auf die Barrikaden. 1904 wurde der Deutsche Lärmschutzverband gegründet, 1906 kam die Gesellschaft zur Vermeidung von unnötigem Lärm in New York hinzu, gefolgt von einem Londoner Komitee zur Bekämpfung des Straßenlärms zwei Jahre später. Doch der Siegeszug des Autos (und der Unterhaltungselektronik) ließ sich nicht von Mahnern stoppen: "Wir können keine Ruhe in unserer Stadt erwarten, bevor nicht Millionen von Einwohnern realisieren, dass sie ihr Geburtsrecht auf Stille für ein Radio und ein Automobil verkauft haben", heißt es in einem New Yorker Untersuchungsbericht von 1932. Das Trommeln des eigenen Motors war den Automobilisten eine Lust - den Lärm verursachten immer die anderen.

Die anschwellende Blechflut hat den Straßenverkehr zur bedeutendsten Lärmquelle gemacht. Autos haben heute einen Anteil von rund 83 Prozent am motorisierten Verkehr. Zwei Drittel der Deutschen fühlen sich davon ernsthaft gestört. "Heute sind viele Menschen an Hauptverkehrsstraßen tagsüber Belastungen von 75 Dezibel und mehr ausgesetzt", sagt Michael Jäcker-Cüppers, Verkehrslärm-Experte bei der Deutschen Gesellschaft für Akustik, "optimalerweise müssten es 25 Dezibel weniger sein, aber das ist illusorisch. Wir wären schon froh, wenn niemand tagsüber Pegeln von mehr als 65 Dezibel ausgesetzt ist. Das ist die Schwelle, ab der das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen deutlich ansteigt."

Die zunehmende Urbanisierung lässt Ruhezonen schrumpfen

Bei mehr als 65 Dezibel ändern Anwohner ihr Verhalten: Sie halten Fenster geschlossen, und Balkone werden nicht mehr genutzt. Pflanzen bieten mit ihren dünnen Blättern kaum Lärmschutz. Sie sind lediglich dekoratives Begleitgrün zum nervtötenden Krach. Erst wenn es stiller wird, nehmen viele Menschen störende Geräusche bewusst wahr. Aber Lärm wirkt auch unterhalb der Bewusstseinsschwelle, vor allem wenn er zur Dauerbelastung wird. Bereits bei 45 Dezibel wird eine entspannte Konversation erschwert, und bei 50 Dezibel heben die Betroffenen ihre Stimme an. So laut ist es noch in einem Abstand von fünfhundert Metern zu einer befahrenen Straße, die nicht umbaut ist.

Planerisch sollen möglichst große Abstände zwischen Schallquelle (Straße) und schutzbedürftiger Bebauung vorgesehen werden. Die zunehmende Urbanisierung lässt solche Ruhezonen jedoch weiter schrumpfen. Rings um die wachsenden Städte werden immer größere Flächen zersiedelt. Umgehungsstraßen sollen die Zentren entlasten, transportieren den Lärmteppich jedoch in die Peripherie.

Lärm und Alarm sind nicht zufällig verwandte Worte. Lärm aktiviert den Körper, er bleibt in einem ständigen Stand-by-Modus und kommt nicht mehr zur Ruhe. Das wird in Metropolen, die niemals schlafen, zum gravierenden Problem. "In Berlin leben 300 000 Menschen in hoch belasteten Lärmzonen, 2007 waren es noch 340 000. Wenn wir so weitermachen, brauchen wir noch 30 Jahre, um nachts auf Pegel unterhalb von 55 Dezibel zu kommen", so Michael Jäcker-Cüppers. Mehr als zehn Prozent der Betroffenen leiden unter Stress, Schlafstörungen und einem höheren Infarktrisiko.

Es sind gar nicht einmal das Dröhnen der Motoren oder etwaige Hupkonzerte, die den Anwohnern den letzten Nerv und Schlaf rauben. Rollgeräusche werden bei Autos bereits ab 40 km/h und bei Lastwagen von 60 km/h an zu den größten Lärmverursachern. Lastwagen sind bei gleicher Geschwindigkeit um rund zehn Dezibel lauter als Personenwagen. Das entspricht einer Verdoppelung der Lärmbelastung.

Lange war die Lärmminderung das Stiefkind der Verkehrsplanung, seit 2005 hat der Lärmaktionsplan der EU jedoch auch in Deutschland Gesetzeskraft. Die Verkehrslärmschutzverordnung gilt allerdings nur für neue Straßen oder beim Ausbau einer Autobahn. Eine generelle Regelung zum Schutz vor Verkehrslärm auf Deutschlands Straßen gibt es nicht. Lärmsanierungen, die erst bei sehr hohen Belastungen vorgenommen werden, sind eine freiwillige Leistung des Bundes, der Bundesländer oder nachgeordneter Behörden. Alles, wie gesagt, nur im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel ohne Rechtsanspruch. Deshalb werden uns die jüngsten Verkehrsprognosen noch lange in den Ohren klingeln.

Wir fahren immer mehr, um dem Lärm zu entfliehen

Bis 2030 soll der Güterverkehr auf deutschen Straßen um 39 Prozent zulegen, hat das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur kürzlich bekannt gegeben. Aufgrund zunehmender Freizeitmobilität sollen auch die privaten Personenkilometer um zehn Prozent auf 1000 Milliarden pro Jahr zulegen, obwohl die Einwohnerzahl in Deutschland weiter sinken wird. Es ist paradox: Wir fahren immer mehr, um dem Lärm (wenigstens in unserer Freizeit) zu entfliehen - und potenzieren damit das Problem. Mal angenommen, der endlose Verkehrsstrom legt sich nicht selbst lahm, dann machen solche Steigerungszahlen alle Lärmschutzinitiativen voraussichtlich zunichte. In seinem Lärmschutzpaket zwei versprach der damalige Bundesverkehrsminister Ramsauer 2009 eine Minderung der Belästigung durch Straßenlärm um 30 Prozent bis zum Jahr 2020. Die Bundesregierung will dafür bis zu 1,5 Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Doch Lärmsanierungen vergrößern erst einmal das Stauproblem. "Die Fernstraßen als Lebensadern unserer Gesellschaft liegen längst auf der Intensivstation", sagt ein Sprecher des Bayerischen Bauministeriums. Obwohl die Autobahnen übervoll sind, müssen die Fahrbahnbeläge ständig ausgetauscht werden - dem Lärmschutz sei Dank.

Ob auf der A 3 bei Oberhausen, der A 5 bei Frankfurt oder der A 9 bei München: Die deutschen Straßenbauer haben sich mit dem sogenannten Flüsterasphalt ein teures Dauerproblem eingehandelt. Rund alle acht Jahre müssen die etwas leiseren Fahrbahndecken erneuert werden. Die Lärmminderung um bis zu fünf Dezibel beruht auf einem sehr hohen Hohlraumgehalt von bis zu 22 Prozent in der obersten Schicht. Dieser Schweizer Käse als Straßenbelag fängt unter hoher Belastung schnell an zu bröseln.

Offenporiger Asphalt hat eine halb so hohe Lebenserwartung im Vergleich zu herkömmlichen Asphaltdecken, da helfen auch aufwendige Materialforschung und höchste Präzision beim Einbau bislang wenig. Allein die großflächige Sanierung der A 9 zwischen den Autobahnkreuzen Neufahrn und München-Nord kostet 22 Millionen Euro - eine bisher noch nicht quantifizierbare Schadenssumme aufgrund von Unfällen und Dauerstaus nicht eingerechnet. Einziger Trost: Lärmschutztunnel auf dem heutigen Stand der Sicherheitstechnik wären mehrere hundert Mal so teuer.

Die Ausstellung zum Thema: Leiser Straßenverkehr. Welche Rolle spielt Verkehrslärm und wie entstehen Reifen-Fahrbahn-Geräusche? Deutsches Museum München Verkehrszentrum, bis Sonntag, 27. Juli 2014.

© SZ vom 12.07.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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