Kolumne:Ein Glück, wir leben noch!

Erloschene Grabkerzen, verwelkte Blumen, feuchte Stofftierchen, zerflossene Briefchen - vielerlei Dinge erinnern uns am Straßenrand daran, dass ganz schnell etwas Schlimmes passieren kann. Und lassen viele wiederum aufatmen.

Von Richard Christian Kähler

Für fantasievolle Menschen hält der Berufstraum "Astronaut" eine herbe Enttäuschung bereit: Sternenfahrer müssen komplett fantasielos sein. Und so sehen sie in der Regel dann ja auch aus. Doch nicht nur in den unendlich langweiligen Weiten des Kosmos ist so ein Vollmangel an Vorstellungskraft hilfreich - wie wäre er erst auf brechend vollen und unentwegt aufregenden irdischen Straßen nervenschonend!

Denn Vorstellungsverfluchte denken unentwegt: Nur ein winziger Fehler, ein einziger, unwacher Moment - und schon ist es passiert: Gegenverkehr- oder Straßenbaum-Crash! Eine Zeit lang galt die B 73, von Hamburg an die Nordsee nach Cuxhaven, als todesunfallsreichste Strecke der Republik. Auf dem eiligen Weg zur ehemaligen England-Fähre kam man mit dem Zählen der kleinen weißen Gedenkkreuze kaum noch hinterher.

An einem einsamen Kreuz allerdings, auf menschenleerer Landstraße, hinter einer Kurve neben einem Baum, kann man getrost einmal ein paar Minuten Lebenszeit für so eine ganz persönliche Gedenkstätte opfern, und sei's als Memento mori der eigenen, blitzartig möglichen Sterblichkeit. Was hat die Armen hier aus der Kurve getragen? Sprudelnder Alkohol? Ein springendes Reh?

Wie auf mediterranen Friedhöfen haben die Toten hier nicht nur Namen, sondern auch Gesichter: zwei junge Mädchen, lächelnde Fotos in Klarsichtfolien an den Stamm gepinnt. Dazu am Fuß die üblichen, hilflosen Hinterbliebenen-Gaben: erloschene Grabkerzen, verwelkte Blumen, feuchte Stofftierchen, zerflossene Briefchen. Selbst der standfeste Straßenbaum als unfreiwilliger Mörder hat ein großes Stück seiner Rinde hingegeben.

Aber im Himmel, dieses Trosts sind sich die Trauerzeilen hier sicher, da sehen wir uns ja alle wieder. Und sehen dann hoffentlich auch wieder so heil und unversehrt aus wie auf den Fotos an unserer Seelenaushauchstelle, so lebendig wie in letzter Sekunde vor einem urplötzlichen Unfalltod. Aber hey, ein Glück: Noch leben wir!

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