Jubiläum der Draisine:Wie das Fahrrad massentauglich wurde

Von der Draisine zum Hightech-Rennrad: Durch diese technischen Errungenschaften wurde das bizarre Laufrad von Karl von Drais in 200 Jahren zum demokratischsten Fortbewegungsmittel.

Von Daniel Hofer

Eine Reise mit dem Fahrrad quer durch mehrere Länder ist eine eigenartige Sache. Nach Hunderten Kilometern und Tausenden Höhenmetern motorloser Plackerei bleibt am Ziel ein Gefühl hängen, das die Anstrengung verblassen lässt: die Genugtuung und der Stolz über die mit eigener Muskelkraft erfahrene Autonomie. Das Fahrrad erfüllt uns einen alten Traum, indem es die Kraft der Beine in Fortbewegung umwandelt - auf eine humane, effiziente und umweltverträgliche Art und Weise.

Diese märchenhafte "Verlängerung des eigenen Körpers", wie es der Philosoph Steen Nepper Larsen formuliert hat, ist das Ergebnis einer 200 Jahre währenden Entwicklung voller Anekdoten und Legenden. Diese großen und kleinen Meilensteine haben das Fahrrad vom schwerfälligen hölzernen Pferdeersatz zum Hightech-Produkt und Massenverkehrsmittel gemacht:

Draisine im Technoseum Mannheim

Anfangs noch ohne Kurbeln und Pedale: Der Fahrer einer Draisine musste sich mit den Füßen vom Boden abstoßen.

(Foto: Technoseum Mannheim)

Die Draisine

Es war am 12. Juni 1817, als Karl von Drais, ein badischer Forstbeamter und Tüftler, das Rad ins Rollen brachte. Vor seinem Haus in Mannheim setzte er eine seltsame, von ihm konstruierte und später nach ihm benannte Laufmaschine in Gang. Einen länglichen Holzrahmen mit Sattel und zwei hintereinander in einer Spur montierten Rädern, von denen das vordere lenkbar war. Auf dem bizarren Gefährt, das er der Legende nach in Zeiten von Hungersnöten und Missernten als "pferdeloses Transportmittel" ersonnen hatte, rollte der Freiherr auf der damals besten Chaussee der Umgebung in das etwa sieben Kilometer entfernte Schwetzingen und zurück. Dabei stieß er sich mit den Beinen vom Boden ab und hielt mit der Lenkung am Vorderrad das Gleichgewicht. Drais hatte das Zweiradprinzip entdeckt, für das es kein Vorbild in der Natur gab. Schon bei der ersten Ausfahrt erreichte er auf dem Ur-Fahrrad ein Durchschnittstempo von ungefähr 15 km/h - damals eine Sensation.

Schon ein Jahr nach der Premiere seiner Draisine bewältigte Karl von Drais die 550 Kilometer lange Distanz von Mannheim nach Paris. Die Idee wurde bald von Nachahmern kopiert und verbreitete sich rasant, vor allem nach Frankreich und Großbritannien. Nach dem vielversprechenden Start ebbte die Begeisterung für die Laufmaschine jedoch bald ab. Auf den holprigen und schlammigen Straßen machte das Fahr-Laufen schlichtweg wenig Spaß, und auf den besser zu befahrenden Bürgersteigen kam es häufig zu handfesten Konflikten mit Fußgängern. Verbote in vielen Städten würgten die Entwicklung weitgehend ab.

Das Tretkurbel-Veloziped

Die Historiker sind sich uneins, wer ein halbes Jahrhundert nach Karl von Drais' Jungfernfahrt den größten Anteil am nächsten Kapitel der Fahrradwerdung hatte. Am ehesten der französische Kutschenschmied Pierre Michaux, der auf der Pariser Weltausstellung von 1867 mit dem Vélocipède ("Schnellfuß") Furore machte. Zum Durchbruch verhalf ihm ein schlanker, aus Metall gefertigter Rahmen - und der indirekte Antrieb. An der Vorderachse montierte Kurbeln erlaubten erstmals einen kreisrunden Tritt. Das als ermüdend empfundene Abstoßen vom Boden war nun überflüssig.

Ob das Pedalieren - eine Kurbelumdrehung entsprach einer Radumdrehung - so viel effizienter war als das Anschubsen per Fuß, ist zweifelhaft. Die eigentliche Sensation war aber, dass für den Fahrer kein Bodenkontakt mehr notwendig war. Das Gefühl ähnelte jenem Kindheitsmoment, den wir alle erlebt haben: Wenn nach einem beherzten Antritt die Koordination des Balancierens und Tretens klappt und die Füße voller Vertrauen auf den Pedalen bleiben.

Beginn der Massenproduktion

Doch trotz aller Begeisterung, das Tretkurbel-Veloziped war noch immer ein grobschlächtiges Ungetüm auf schweren Holzrädern mit Eisenbereifung. Das Kurbeln am gelenkten Vorderrad erzeugte lästige Einflüsse, die das Balancieren erschwerten. Eine Übersetzung gab es noch nicht, geschweige denn eine Gangschaltung. "Boneshaker" schimpfte man das Gefährt und es muss fürchterlich gewesen sein, auf diesem Knochenschüttler über die damaligen Landstraßen zu holpern.

Als der Deutsch-Französische Krieg 1870-71 die Evolution des Fahrrads auf dem Kontinent zum Erliegen brachte, setzten sich die Briten an die Spitze der neuen Fortbewegungsstechnologie. Auf der Insel übernahmen innovative Unternehmer Massenfertigungsverfahren, beispielsweise aus der Nähmaschinenproduktion. Das senkte die Preise der neuen Gefährte. Galten sie zunächst als Sportgeräte und Statussymbol für betuchte junge Adlige, konnten sich bald auch Arbeiter die "Hobby-Pferde" leisten. Die Bicycle-Start-up-Szene etablierte sich um die Stadt Coventry, die sich zum frühen Weltzentrum der Fahrradindustrie entwickelte.

Das Hochrad war beliebt, aber gefährlich

Jubiläum 200 Jahre Fahrrad

Beliebtes Verkehrsmittel mit heiklem Fahrverhalten: das Hochrad.

(Foto: dpa)

Im Mutterland der Industrialisierung wurden ständig neue Erfindungen in die Welt gesetzt, die die Weiterentwicklung des Fahrrads befeuerten. Statt massiver Eisenstangen verwendeten die britischen Konstrukteure Rohre, um das Gewicht zu senken. Kugellager minimierten die Reibung, und ein technisches Wunderwerk betrat die Bühne des Fortschritts: das Drahtspeichenrad. Anstelle dicker Holzstreben nahmen nun dünne Metallspeichen die Kräfte auf. Aus dem klobigen Wagenrad erwuchs ein filigranes Gebilde, das leicht war und zugleich stabil.

Vater dieser Erfindung war James Starley, ein leitender Angestellter einer Nähmaschinenfabrik. 1871 bekam er ein Micheaux-Rad in die Hände und hatte einiges daran auszusetzen. Das Ergebnis war ein neuer Fahrradtyp - das Ariel-Hochrad. Die Formel lautete ja noch immer: eine Radumdrehung pro Pedalumdrehung. Um schneller zu werden, musste folglich das Vorderrad wachsen. Es nahm absurde Größen an, das Hinterrad verstümmelte im Gegenzug und hatte nur noch eine Stützfunktion. Auf 30 km/h konnte der Pilot sein Hochrad jetzt beschleunigen. Er thronte aufrecht über dem Triebrad in luftiger Höhe, was noch zu Komplikationen führen sollte.

Extremsportler des ausgehenden 19. Jahrhunderts

Das in Großbritannien "Penny Farthing" genannte Hochrad (der Begriff entspringt dem Größenverhältnis dieser beiden englischen Münzen) zog das britische Publikum in seinen Bann. Frauen entdeckten, welche Freiheiten es ihnen eröffnete. Rennen wurden organisiert und Fahrradclubs wurden gegründet, die sich vehement für die Verbesserung des öffentlichen Straßennetzes einsetzten.

Der ebenfalls aus England stammende Entdecker Thomas Stevens leistete Unbeschreibliches, als er im Jahr 1884 von der Westküste der USA aus aufbrach, um auf dem Hochrad die Welt zu umrunden. Dass der Teufelskerl es schaffte, in gut zweieinhalb Jahren 22 000 Kilometer zurückzulegen und dieses Abenteuer mit heilen Knochen zu überstehen, mutet heute fast unwirklich an. Das höhere Tempo der Hochräder wurde nämlich mit einem gefährlichen Nachteil erkauft: Da der Schwerpunkt des Fahrers hoch und nah am Scheitelpunkt des Vorderrades lag, genügte ein Schlagloch oder ein starkes Bremsmanöver, um die Fahrer aus voller Fahrt Kopf voraus in Richtung Boden zu katapultieren. Der damals sogenannte "Header" endete oft tödlich, was dem Hochrad den Spitznamen "Witwenmacher" eintrug.

Das Safety-Bike

Die zentrale Erkenntnis daraus war, dass - um der Probleme Herr zu werden - die Kraft der Beine idealerweise am Hinterrad ansetzen sollte. In den Fertigungsverfahren der Fabriken war eine passende Kraftübertragung bereits entwickelt worden. Die Rollenkette aus beweglichen Metallgliedern hatte einen enormen Wirkungsgrad. Sie wurde gegen Ende der 1870er-Jahre von den Fahrradkonstrukteuren übernommen und verfeinert. Über unterschiedlich große Kettenblätter stellten sie endlich auch eine Übersetzung ins Schnelle her. Die Vorderräder konnten wieder zu normaler Größe schrumpfen und allmählich kristallisierte sich die Form des Fahrrads heraus, die wir heute kennen. Das Sicherheitsniederrad setzte den neuen Standard und beendete die Ära des so populären wie lebensgefährlichen Hochrads.

Der Luftreifen

Für den nächsten Quantensprung war der schottische Tierarzt John Boyd Dunlop verantwortlich. Die Erfindung, die er 1888 zum Patent anmeldete, war der luftgefüllte Reifen. Dieses eher unspektakulär erscheinende Detail komplettierte das Speichenrad und bescherte den Radfahrern etwas sehnlichst Vermisstes: Komfort und Sicherheit. Die Reifen rollten nun geschmeidig ab und die elende Rüttelei hatte - bedingt durch die natürliche Federwirkung der Luft - ein Ende.

Es fehlte nur noch der Feinschliff an der Seele des Fahrrades: dem Rahmen. Mit der diamantförmigen, aus zwei Dreiecken zusammengesetzten Geometrie fand man schließlich seine bis zum heutigen Tag gültige klassische Form.

Ein Gang, zwei Gänge, 22 Gänge

Die Anfangszeit der Tour de France vor dem Ersten Weltkrieg wird als die heroische Epoche des Radsports bezeichnet, weil die Fahrer Tagesetappen von bis zu 400 Kilometern bewältigen mussten. Doch die ersten Rennräder waren noch weit entfernt von der präzisen Spitzentechnologie, die wir heute kennen. Umso unglaublicher, dass die Tour-Pioniere auf den schweren Hochgebirgsetappen durch Alpen und Pyrenäen ohne Gangschaltung auskommen mussten. Sie behalfen sich, indem sie ein zweites, größeres Ritzel auf der anderen Seite des Hinterrads montierten. Bei Bedarf wurde es ausgebaut und umgedreht. Erst um 1930 wurde die Gangschaltung erfunden, die die Kette ferngesteuert über Züge auf verschiedene Ritzel hebt und deren Prinzip sich bis heute nicht verändert hat. Es folgten Jahrzehnte der Weiterentwicklung bis zum Hightech-Produkt, das - um nur ein Beispiel zu nennen - zu einem Carbon-Kunstwerk mit 22 Gängen und einem Gewicht von weniger als vier Kilogramm geführt hat.

Die Evolution des Fahrrads entpuppte sich in vielen Bereichen als wegbereitend für die Entwicklungen beim Automobil. Mit dessen Siegeszug uferten jedoch die Umwelt- und Verkehrsprobleme aus. Das Fahrrad war immer schon erster Anwärter, um diese Probleme zu lösen. Es ist bezeichnend, dass Karl von Drais als überzeugter Demokrat nicht viel Wert auf seinen Adelstitel legte. Er starb verkannt und verarmt und blieb anfangs nicht als gefeierter Erfinder in Erinnerung. Doch längst ist klar, dass der Konstrukteur der Draisine vor 200 Jahren den Startschuss gab für das klügste und demokratischste Verkehrsmittel der Welt.

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