90 Jahre Nordschleife:Ewig lockt der Nürburgring

Rennszene auf dem Nürburgring 1936

Rennszene von 1936: Beim Großen Preis von Deutschland jagt Fagioli im Mercedes den Alfa-Romeo-Fahrer Sommer über den Nürburgring.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Die Nordschleife ist eine besondere Rennstrecke, einzigartig und gefährlich. Gedanken über eine Rennstrecke, deren 90-jährige Geschichte von Größenwahn und Unvernunft geprägt ist.

Von René Hofmann

Den ersten Toten gab es schnell. Am 18. Juni 1927 wurde der Nürburgring eröffnet. Bereits im Jahr darauf überlebten nicht alle den Großen Preis von Deutschland. Vincenz Junek wollte nicht langsamer sein als seine Frau und Mitstreiterin. Kurz nachdem er sie am Steuer abgelöst hatte, flog sein Bugatti im Streckenabschnitt "Ex-Mühle" über die Böschung. Ein Rivale fuhr zur Box, um Elisabeth Junek die traurige Nachricht zu überbringen. Das Rennen? Ging natürlich weiter. Die Rennen auf dem Nürburgring sind immer weitergegangen. Seit nunmehr 90 Jahren läuft das nun schon so. Und ein Ende ist nicht in Sicht.

Spa, Monza, Silverstone: Viele Rennstrecke sind Sehnsuchtsorte. Aber die gewaltige Schleife, die sich durch die Eifel schlängelt, ragt doch heraus. Schon die ersten Starter sahen sofort, was sie da erwartete. "Wir rissen die Augen auf. So etwas hatten wir noch nicht erlebt. Mitten in den Eifelbergen lag eine Strecke mit Steigungen, die dem Motor scharf an die Lungen griffen, aber auch mit unsagbar schönen Ausblicken weit über das Land, auf Täler und Dörfer": Das waren Rudolf Caracciolas erste Eindrücke.

Caracciola hat 1926 bei widrigem Wetter den ersten Großen Preis von Deutschland auf der Avus in Berlin gewonnen. Er wusste also, wovon er sprach, als er den neuen Nürburgring als "bärig schwere Strecke" einstufte: "Bei den spitzen Kehren weiß jeder Fahrer, dass er langsam fahren muss, sonst wird er ohne Gnade aus der Bahn geschleudert. Aber andere Kurven gibt es, die harmlos und bieder sind, wenn man sie mit 95 Sachen richtig anschneidet. Kommt jedoch einer mit 105 Stundenkilometern daher und übersteuert den Wagen um eine Kleinigkeit, dann wird er gewöhnlich zehn Minuten später mit dem Sanitätsauto abgeholt."

Was den Nürburgring so besonders macht? Seine Länge. Seine vielen Kurven, von denen keine einer anderen gleicht. Dass die Landschaft nicht abgehobelt wurde, um den Platz zu schaffen, den Rennautos eigentlich brauchen, sondern sich das Asphaltband durch den dichten Wald windet und an die Hügel schmiegt. Dass es an einer Stelle steil hinaufgeht wie auf einem Almanstieg. Und an einer anderen einen Hang hinab, auf dem sich im Winter prima rodeln lässt. Dass manche Kurven schräg in der Gegend liegen. Und sich vor etlichen nicht erkennen lässt, wie es dahinter weitergeht. Wer selbst nie versucht hat, auf dem Nürburgring wirklich schnell zu fahren, der kann es sich am ehesten vorstellen wie den Versuch, mit einem Düsenjäger eine Achterbahn abzufliegen: Die Eindrücke rasen so schnell heran, dass kaum Zeit zum Denken bleibt.

Die Baukosten: 14 statt 1,8 Millionen Reichsmark

Caracciola glückte der Balanceakt auf dem Grat zwischen Mut und Übermut. In einem Mercedes, der mehr als 1,6 Tonnen wog und von einem Motor mit 6,8 Litern Hubraum angetrieben wurde, gewann er das Eröffnungsrennen des Nürburg-Rings, der damals noch mit Bindestrich geschrieben wurde und dessen Grundstein 1925 gelegt worden war - als "Notstandsmaßnahme im Rahmen der produktiven Erwerbslosenfürsorge", angeschoben vom Preußischen Wohlfahrtsministerium. Dessen Kalkül: Für den Bau einer "Renn- und Prüfungsstraße" in einem strukturschwachen Gebiet, seien vor allem Arbeiter nötig - und sonst kaum etwas. Die Kalkulation ging auf: Mehr als 2000 Menschen fanden beim Bau Arbeit. Eine andere Kalkulation aber ging mächtig schief: Statt 1,8 Millionen Reichsmark kostete das Projekt schließlich 14 Millionen.

Größenwahn und Unvernunft: Das sind zwei prägende Motive, die sich durch die Geschichte des Rings ziehen. Auch den ersten Toten der Formel-1-WM gab es hier: 1954 schleuderte der Argentinier Onofre Marimón im Training mit seinem Maserati gegen die Bäume, die die Abfahrt "Wehrseifen" säumten.

Für das Geschäft waren die Tragödien nicht schlecht

Es klingt zynisch, aber fürs Geschäft waren die Tragödien gar nicht schlecht: Sie förderten den Ruf der Strecke, für den Jackie Stewart schließlich eine Formel fand, die bis heute hält: die "grüne Hölle". Weil es zwischen den vielen Bäumen so idyllisch ist. Und so tückisch trügerisch. Beim verregneten Grand Prix 1968 jagte Stewart weit voraus, so weit, dass er sich im Ziel sorgte, es könnte wieder etwas Schlimmes passiert sein. Mehr als vier Minuten dauerte es, bis der Zweitplatzierte aus der Gischt auftauchte.

Trotz des Triumphs - ein echter Freund des Rings wurde der Schotte nie. "Menschen, die sagen, sie lieben den Nürburgring, haben entweder nie versucht, dort schnell zu fahren, oder sie lügen. Orte wie ihn liebt man nur, wenn man im Februar gemütlich daheim vor dem Kaminfeuer sitzt": Stewart war Avantgardist, er gehörte zu den ersten Rennfahrern, die bessere Sicherheitsvorkehrungen forderten - Leitplanken, Fangzäune, Auslaufzonen. Im Jahr 1970 initiierte er einen Boykott. Erst da ließen die Nürburgring-Betreiber zumindest die Bäume fällen, die besonders nah an der Ideallinie standen. Im Jahr darauf kehrte die Formel 1 zurück, Bedenken aber blieben. Und wie Bedenkenträgern begegnete wurde, das sagt viel aus über den Geist jener Zeit.

1976 scheitert Laudas Boykott - dann verunglückt er

Weil sich Niki Lauda, der Weltmeister des Jahres 1975, dafür aussprach, den Großen Preis von Deutschland 1976 nicht in der Eifel auszutragen, wurden ihm am Nürburgring Flaschen entgegengeschleudert und Plakate gezeigt, auf denen stand: "Der Ring ist gut, Lauda nimm deinen Hut!" Lauda wollte das Rennen auf dem Nürburgring verhindern, er wurde von seinen Kollegen aber überstimmt. Dass er in der zweiten Runde im Streckenabschnitt "Bergwerk" dann die Kontrolle über seinen Ferrari verlor und einen schlimmen Feuerunfall erlitt, ist bekannt. Etwas in Vergessenheit geraten ist, wie wild entschlossen die Verantwortlichen auch danach noch waren, die Raserei über die Unvernunftsschleife weitergehen zu lassen. Günter Götz, der Sprecher des rheinland-pfälzischen Verkehrsministeriums, verkündete: Laudas Unfall spreche nicht gegen die Strecke, "an eine Schließung des Rings ist überhaupt nicht zu denken".

Gekommen ist es dann doch etwas anders. Bis 1984 eine neue, ausladendere, ebenere, kürzere und sicherere Schleife im Süden des Areals gelegt wurde, ließ sich die Formel 1 in der Eifel nicht mehr blicken. Bei ihren 18 Auftritten auf der Grand-Prix-Strecke wurde anschließend siebenmal die deutsche Nationalhymne gespielt, fünfmal für Michael Schumacher, einmal für seinen Bruder Ralf und - bei der letzten Gelegenheit 2013 - für Sebastian Vettel.

Seitdem macht die höchste Kategorie des Motorsports einen Bogen um den Nürburgring, weil dort niemand mehr die Antrittsgage für sie aufbringen mag. Ein Anachronismus ist die nun 90 Jahre alte Strecke deshalb aber nicht. Ende Mai reihten sich vor ihr mehr als 150 Starter zum 24-Stunden-Rennen auf. Und eine ordentliche Rundenzeit auf der berüchtigten Nordschleife gilt immer noch als Gütesiegel, was ein sportliches Auto kann. Der Bestwert für Fahrzeuge mit Straßenzulassung wurde vor wenigen Wochen erst verbessert: auf 6:45,90 Minuten. Gesetzt hat ihn ein Nio EP9. Ein reiner Elektroflitzer.

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