IAA 2011:Mein Ego und sein Auto

Wie gerade auf der IAA zu sehen ist, triumphiert in der Automobilbranche das Kleine, Kompakte, Reduzierte, Sparsame. Das ist natürlich ganz toll und überhaupt sehr richtig. Nur leider ist es auch ein bisschen grauenhaft. Eine Polemik.

Michael Winter

Wenn ich ein normales Auto fahren will, das diese Bezeichnung verdient, fahre ich zu meinem Schwager. Der hat ein ummauertes Waldgrundstück und etliche Garagen darauf stehen. Dort bastelt er an antiken Porschemodellen herum, die er vor der Schrottpresse gerettet hat. Hier steht auch mein richtiges Auto, ein Spritschlucker. Ich traue mich nicht, es vor unser Haus zu stellen. Ich wäre in den Augen der Nachbarn ein Wüstling und Klimakiller, dem die Zulassung entzogen gehört.

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Auf die derzeit in Frankfurt stattfindende Internationale Automobilausstellung (IAA) strömen die Besucher. Die Neuheiten, die sie hier bestaunen können, sind meist verbrauchsarme, schadstoffreduzierte Kleinwagen oder futuristische Elektroautos, deren Serienreife noch dahinsteht. Allesamt Vehikel des schlechten Gewissens, denen gleichwohl vertrauter  Fahrspaß nachgerühmt wird.

(Foto: Pressinform)

Unsere Nachbarn fahren mit dem Fahrrad ins Zentrum. Einige haben ihre Autos den Sommer über sogar abgemeldet. Die Kinder werden mit Schultransportern abgeholt. Seit der Carport, die Sommerlaube für Autos, in Mode gekommen ist, kann man in unserem Vorstadtviertel, einem Neubaugebiet mit eng beieinanderstehenden Einfamilienhäusern, die Spielstraßen säumen, Studien über die dort wohnenden Autobesitzer treiben.

An Samstagen stehen die Autos vor der Garage oder dem Carport und die Fahrräder sind aufs Wagendach geschraubt. Die meisten Fahrzeuge sind neu, abgefeimte Vehikel mit Schlitzaugen ohne Würde und mit Rückfenstern in der Form von Badewannen. Lackiert sind sie in den aktuellen Modefarben, die an Ausscheidungen von Hunden erinnern. Einige sind hochrädrig zum bequemen Einstieg für Gelenkgeschädigte. Es gibt auch Kleinstcoupés, die ausschauen, als seien sie in einer Fabrik in Entenhausen entwickelt worden.

Nach ihren Autos zu schätzen, sind unsere Nachbarn vor allem kantenlose Charaktere. Sie spekulieren nicht mit hochriskanten Papieren an der Börse. Sie sind leitende Sachbearbeiter im öffentlichen Dienst, gehen nicht bei Rot über die Straße, sind Nichtraucher und nicht auf Seitensprünge aus. Sie leben mäßig, joggen und fahren im Herbst mit dem Autozug nach Meran. Das Abenteuerlichste, was sie sich vorstellen können, ist ein Familienurlaub in einem Freizeitpark.

Das Nürnberger Marktforschungsunternehmen "plus" hat nach Befragung von etwa tausend Bundesbürgern herausgefunden, dass Mercedesfahrer als spießige und humorlose Opas, VW-Fahrer als fröhlich, Porsche-, BMW- und Geländewagenfahrer als rücksichtslose Draufgänger und Klimasäue, Mini-, Audi- und Lexusfahrer als flexibel und gut aussehend und Ford-, Dacia- und Citroënfahrer als piefig gelten. Als ganz und gar unspießig werden Smartfahrer eingeschätzt.

Was wäre passender? In einem grauen Smart oder einem pinkfarbenen offenen Cadillac El Dorado von 1959 am Berliner Adlon vorzufahren? Der Portier würde möglicherweise den Fahrer eines Audis A6 als den unproblematischeren Gast einschätzen.

Egal welches Modell auf der diesjährigen IAA in Frankfurt der Publikumsrenner sein wird, das Auto des Jahres ist ein klappriger Gemüsetransporter aus den Achtzigern, aus dessen Führerhaus, den weißen Regenschirm aufspannend, Muammar al-Gaddafi herausschaute und in die Videokamera Sätze murmelte, als seien sie von Helge Schneider erfunden.

Über jedem Autokauf liegt ein moralischer Rechtfertigungsdruck

Porsche- und BMW-Fahrer gibt es überhaupt nicht in unserer Straße. Dafür den Mercedes der sparsamen M-Klasse. Diese "Sport Utility Vehicles" schauen aus wie fahrbare Transportkäfige für Katzen. Einer hat einen Landrover mit dem bezeichnenden Typennamen "Defender", und der Mann rechtfertigt sich damit, zur Jagd zu gehen. Ein anderer fährt Seat Alhambra (Sechs Liter Diesel auf 100 Kilometer) und seine Frau einen Fiat Punto. Ein weiterer Nachbar hat nicht nur sein Haus, sondern auch sein Auto auf Gas umgerüstet und erzählt beim Straßenfest jedem, dass er unter 120g CO2/km kommt.

Der Nachbar im Haus gegenüber fährt einen S-Klasse-Mercedes, für den er eigens eine Zweitgarage anbauen ließ. Sie ist zu eng geraten, so dass er aus dem Auto in der Garage nicht aussteigen kann. Der Mann trägt auch im Auto Hut. Er ist jenseits der siebzig und hat keinen Funken Humor, was wir daran gemerkt haben, dass er vor der Walpurgisnacht nicht nur alle Mülltonnen und Fußabtreter verschließt, sondern einen Scheinwerfer aufstellt, der die Garagentür taghell anstrahlt.

Autobesitzer haben es heutzutage schwer. Über jedem Autokauf liegt ein moralischer Rechtfertigungsdruck. Die Zeiten, da man vor dem Nachbarn mit Sportflitzern oder geländegängigen Ungetümen protzen konnte, sind vorbei. Der Autofahrer muss sich die Frage gefallen lassen, warum er überhaupt fährt.

Die Einschläge kommen näher. Erst traf es die Raucher. Jetzt werden in Hamburg die Trinker aus dem Nahverkehr gezogen. Die Leser, die noch ohne Bildschirm auskommen, müssen wie in Klinikzimmern unter einer Art Neonlicht sitzen, die Wohnungsheizer müssen ihre Wände in unverrottbares Styropor verpacken. Ein vermögender Charmeur sollte Frauen nur bei offener Tür und unter Zeugen die Hand geben, ebenso Zimmermädchen vermögenden Charmeuren.

Unsere Sprache wurde von plötzlich als politisch unkorrekt definierten Begriffen gereinigt. Eine unaufgeregte, als sachlich empfundene Verwaltungsrede, unter deren Oberfläche das Misstrauen nistet, beherrscht unser öffentliches Miteinander, außer im Verkehr und im Fußballstadion. Wir wünschen einander einen schönen Tag und bedanken uns deeskalierend beim Kellner für den Saufraß. Jetzt erwischt es zum Schluss neben dem Billigflieger auch den Autofahrer. Der Individualverkehr steht zur Disposition.

Autos mit einem Sozialstatus ganz oben oder ganz unten auf der Bewertungsskala, erwecken Misstrauen. Sie werden mit dem Satz kommentiert: nicht hinschauen. Bis in die achtziger Jahre gab es kein Problem damit, um ein neues Modell auf dem Supermarktparkplatz herumzustehen und auf das Armaturenbrett zu starren. Heute rufen Passanten, die Jugendliche um ein parkendes Auto versammelt sehen, die Polizei.

Das wichtigste Gut der Zukunft: die Distanz

Mein Vater hatte in den fünfziger Jahren einen Borgward. Garagen gab es nicht. Der Borgward 1800 war das einzige Auto vor dem Haus, in dem wir wohnten. Niemand rührte es an. Ich durfte mit den Spielkameraden auf die vordere Sitzbank, und wir wechselten uns im Lenken ab. Das Vergnügen verglühte schnell bei der Freude auf die Spritztour mit den eigenen Tretrollern ums Karree. Später fuhr mein Vater eine Isabella, cremeweiß, eine Sensation in der Straße, dann stieg er auf einen VW Karmann Ghia Typ 34 um, der "Lady's Sportscar". Offenbar war in ihm die Sehnsucht nach weiblichen Automodellen verborgen. Niemand nahm ihm das übel. Es gab weder Neid noch Spott. Das Auto am Straßenrand war wie ein gelandetes Luftschiff. Es stand nicht in Frage, genauso wenig wie sein Fahrer. Niemand erwartete, dass es einmal Feuer fangen könnte.

Autofahren sei eine Sache des 20. Jahrhunderts und anachronistisch. Der Individualverkehr sei am Ende, frohlockt Professor Stephan Rammler, Leiter des Instituts für Transportation Design an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig, und propagiert das Carsharing und eine Kombination von kollektiven und individuellen Verkehrsträgern als Ausweg aus dem obsolet gewordenen Kulturmodell der Massenmotorisierung.

Junge Menschen, sagt er, würden sich viel weniger über das Auto definieren als Ältere. Aber vielleicht stecken Jugendliche Autos nur deshalb an, weil sie sich keine leisten können. Turnschuhe und iPad sind eben ihre Ersatzstatussymbole geworden. Ist der Verzicht auf den Individualverkehr also teils ein Birkenstock- und teils ein Unterschichtenphänomen?

Da ist nun eine Zündstoffvokabel gefallen, die den Autor dieser Zeilen als arroganten Schnösel und Cayennefahrer outet. Der Begriff "Unterschichtsfernsehen" wurde als Tabubruch in einer Gesellschaft empfunden, die sich bis dahin die Illusion leistete, weitgehend sozial homogen zu sein. Die Tatsache, dass Deutschland nach den achtziger Jahren zunehmend in eine knallharte Klassen- und Kastengesellschaft zerfiel, wird von jenen ignoriert, denen Distinktion durch teuren Geschmack schon immer verdächtig war. Die haben kaum eine andere Wahl, als den Begriff "Unterschicht" als eine Angstvokabel vor dem sozialen Abstieg zu verunglimpfen.

Das wichtigste und teuerste Gut wird in Zukunft nicht Gold, sondern Distanz sein. Um Distanz unübersehbar zu markieren, ist Vermögen gleichwohl unverzichtbar. Es sei denn, man verkriecht sich in die verlassenen Regionen dieser Welt. Wer das nicht mag, dem bleibt nur das ummauerte Haus im Wald und für die Mobilität die geschlossene Limousine.

Was ist der schönste Fensterplatz in einem Zugcoupé wert, wenn das Abteil oder der Großraumwagen besetzt ist mit Geschäftsleuten, die sich anhand ihrer aufgeklappten Laptops in Bilanzierungsfragen verwickeln und nebenbei ihre Sekretärinnen anrufen? Was nützt ein Platz in einem Zugrestaurant, wenn der Mittelgang von München bis Stuttgart von Lidlticketinhabern zugestellt und für das Servicepersonal kein Durchkommen ist? Was ist so eine Zugfahrt gegen die Fahrt im eigenen Auto ohne lästige Mitfahrer oder gar Familienangehörige?

Das Auto bleibt trotz aller Verunglimpfung Abgrenzungsraum und Distinktionsgerät. Im Superstau vor Salzburg ist man wenigstens vor den Zumutungen anderer im Gemeinschaftstransportmittel sicher. Allein im eigenen Auto zu sitzen, ist reine Erholung. Selbst wenn ich im eigenen getunten Billigkarren, etwa einem Polo III von 1995 mit 90 PS und dem Kofferraum voller Subwoofer oder einem Škoda mit Viehräumerstoßstangen säße, würde ich mich besser fühlen als in einem überfüllten Vorortzug.

Der individuelle Autoverkehr ist von Hochstaplern bevölkert

Der Gedanke, in einem elektrogetriebenen Einmanneinkaufsmobil, das ausschaut wie ein Ei und allen anderen Eiern gleicht, durch die Stadt zu gurken oder alternativ mit fremden Menschen in einem öffentlichen Nahverkehrsmittel von A nach B gefahren zu werden, macht die mobile Zukunft zu einer Horrorvorstellung. Es genügt schon, in einem Linienbus von Schulkindern traktiert zu werden oder mit Air Berlin und Ryanair eingepfercht zwischen strohbehüteten Fans dem Urlaubsziel entgegenzudüsen.

Ich habe gemerkt, dass ein Nachbar jeden Sonntag sehr früh am Morgen losfährt. Einmal bin ich ihm dabei gefolgt. Er parkte sein Dackelauto vor einer versteckten Garage. Dort stieg er in einen Mercedes 300 SL mit Flügeltüren. Das Auto war metallicgold lackiert und hatte rote Ledersitze.

Als er mich sah, sagte er: "Damit kann ich nirgends fahren. Entweder sie spucken mir auf die Scheiben, zerkratzen den Lack oder klauen es." Er erzählte, dass er den Wagen von seinem Vater geerbt, der die Familie verlassen und in Lugano gelebt habe. Er holte ein in Leder gebundenes Fotoalbum aus dem Handschuhfach. Der Wagen war auf blassfarbenen Bildern zu sehen, zusammen mit einem weißhaarigen Mann, ersichtlich ein Grandseigneur. Es waren immer dieselben Motive: Er und das Auto vor Palmen an einer Seepromenade. Nur die Damen, die sich an ihn schmiegten, wechselten.

Für den Satiriker Otto Julius Bierbaum, einen der ersten Automobilschriftsteller zu Beginn des 20. Jahrhunderts, war die Bahnreise die entwürdigendste Art der Fortbewegung. Man müsse sich mit Fremden in Coupés zwängen und könne nicht halten, wo man wolle. Der Wunsch nach persönlicher Reisefreiheit machte erst die Erfindung des Verbrennungsmotors möglich.

Natürlich ist der individuelle Autoverkehr von Hochstaplern bevölkert. Viele der Geländewagen oder der Nobelkarossen der Marken Bentley und Rolls-Royce sind geleast oder für einen Tag gemietet. Meist prunken sie mit einem Anschein, der keinen Grund im Sein hat. Dennoch sind mir diese Hochstapler lieber als jene, die vorgeblich der Umwelt zuliebe mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren.

Die automobile Individualität sollte uns erhalten bleiben, nicht zuletzt als Gelegenheit dafür, dass sich Mann und Frau nicht nur über Handy und soziale Netzwerke näherkommen. Bereits Thomas Mann hat, bevor es Boxenluder und Autosalons mit Models gab, die sich auf Kühlerhauben räkelten, das Automobil als Anbahnungsvehikel durchschaut.

Im Roman "Königliche Hoheit" von 1909 erzählt der Poet Axel Martini dem Prinzen Klaus Heinrich, Thronfolger in einem Duodezfürstentum: "Ich habe einen Freund, sein Name ist Weber; ein begüterter junger Mann ... sein Lieblingsvergnügen besteht darin, in seinem Automobil ... über Land zu sausen und dabei von Straßen -und Äckern Bauerndirnen aufzulesen, mit denen er unterwegs - aber das gehört nicht hierher."

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