Greyhound Selbsttest:Nächster Halt: Nirgendwo

Ein Greyhound Bus in Ottawa

Greyhound-Busse verkehren seit 100 Jahren in den USA.

(Foto: Blair Gable/Reuters)

In den USA hatten Fernbusse lange ein Schmuddel-Image. Laut einer neuen Studie ist das inzwischen vorbei. Zu Recht? Eine Testfahrt mit dem neuen Greyhound von Atlanta nach Chattanooga, zwischen Punks mit Ghettoblastern und Passagieren, die Selbstgespräche führen.

Von Steve Przybilla

Als der Punker den Gettoblaster anstellt, kommen die ersten Zweifel. Hat sich Joseph Schwieterman vielleicht doch geirrt? Der renommierte Verkehrsforscher an der DePaul University in Chicago sieht eine neue Ära angebrochen: die der amerikanischen Fernbusse. Vorbei das Schmuddel-Image, das dem Überlandbus dort lange anhaftete. Vorbei das Stigma, dass nur Kriminelle, Obdachlose und Junkies kein eigenes Auto besitzen. "Fernbusse", sagt Schwieterman, "sind derzeit das am stärksten wachsende Transportmittel in den USA. Es hat etwas Magisches, wie sich der Markt entwickelt."

So wie der Punker jetzt tanzt, könnte er wirklich von einem Zauber besessen sein. Es ist 8.30 Uhr, kurz vor Abfahrt des Greyhound-Busses von Atlanta (US-Bundesstaat Georgia) nach Chattanooga (Tennessee). Die Wartehalle ist voll. Überall dösen Fahrgäste, die Köpfe tief in Kapuzenpullis und mitgebrachten Kopfkissen vergraben. Am Ticketschalter gestikuliert ein Mann. Er trägt eine zerrissene Hose und ein offenes Hemd, während draußen die Temperatur am Gefrierpunkt kratzt. Ein paar Meter weiter setzt sich ein älterer Herr neben eine Frau im Teenager-Alter. "Ruf mich an!", flüstert er und steckt ihr eine Visitenkarte zu. Als er verschwunden ist, dreht sich die Frau zu ihrer Freundin: "Verdammter Perversling. Den habe ich vorher noch nie gesehen."

Manche Amerikaner fürchten sich vor einer Fahrt

Natürlich ist die Wartehalle in Atlanta nur eine Momentaufnahme einer einzelnen Station, noch dazu im strukturschwachen Süden der USA. Trotzdem zeigt sie, warum Fernbusse in den Staaten nicht den besten Ruf genießen. Manche Amerikaner fürchten sich geradezu vor einer Fahrt. Während auf Flughäfen und in vielen Bahnhöfen das Gepäck durchleuchtet wird, passiert das an Busbahnhöfen so gut wie nie. Bis heute unvergessen ist der brutale Mord an einem 22-jährigen Kanadier, der 2008 in einem Greyhound-Bus von einem Mitfahrer geköpft wurde. Auch Busfahrer wurden schon attackiert, weshalb sie sich mittlerweile hinter einer Plexiglasscheibe verbarrikadieren.

Greyhound, der größte Anbieter auf dem nordamerikanischen Markt, hatte lange ein Serviceproblem. Weil Busse regelmäßig überbucht wurden, durften Fahrgäste trotz eines gültigen Tickets häufig nicht einsteigen. Damit ist seit diesem Sommer Schluss: Ein Ticket, ein Platz - so das Motto. Das Unternehmen, das im Mai hundert Jahre alt geworden ist, will sich ein neues Image zulegen. Der "New Greyhound" soll zuverlässiger, komfortabler und sicherer sein. Dazu gehören auch neue Expressrouten, die Großstädte ohne lästige Zwischenstopps verbinden.

"Hi Leute, willkommen an Bord"

8.45 Uhr: Pünktlich auf die Minute setzt sich der Bus in Bewegung. Kenny, der Fahrer, ergreift hinter der Plexiglasscheibe das Mikro: "Hi Leute, willkommen an Bord. Bitte stellt eure Smartphones auf lautlos. Und denkt daran, hier wird nicht geraucht und nicht getrunken." Tatsächlich herrscht Ruhe. Die meisten Passagiere stellen ihre Lehnen nach hinten und dösen; sogar der Punker trägt Kopfhörer. Ganz so komfortabel, wie das Unternehmen den New Greyhound anpreist, ist das Fahrzeug allerdings nicht. Die Ledersitze sind durchgesessen, zwischen den Ritzen liegen Krümel. Dafür blitzt die Toilette, die während der Fahrt sogar benutzt werden darf. In deutschen Fernbussen wird das nicht immer gerne gesehen.

Smartphones spielen für Reisende eine immer wichtigere Rolle. "Die Passagiere lieben ihre mobilen Geräte", sagt Verkehrsforscher Schwieterman. "Anders als im Auto dürfen sie im Bus so viel surfen, wie sie wollen." Um diesem Anspruch gerecht zu werden, bieten viele Unternehmen nicht nur kostenloses Internet, sondern auch Steckdosen an jedem Sitzplatz an. Dass die Strategie aufgeht, zeigt nicht nur Schwietermans Studie. Der amerikanische Bundesrechnungshof GAO hat berechnet, dass zwischen 1960 und 1990 die Zahl der jährlichen Fernbus-Passagiere von 140 Millionen auf 40 Millionen zurückging. Seit dem neuen Jahrtausend steigen sie jedoch wieder stark an - laut Branchenverband "American Bus Association" auf zuletzt über 637 Millionen (2012).

Andere Anbieter drängen auf den Markt

Während Greyhound mit 3800 Destinationen noch immer Spitzenreiter ist, drängen andere Anbieter in den Markt. In Florida kämpft der Platzhirsch mit dem luxuriösen "Redcoach" um die Vorherrschaft; landesweit holt der Discounter "Megabus" auf. Dieses Jahr haben mit "Volane" (Texas) und "Royal Sprinter" (Ostküste) zwei Anbieter das Feld betreten, die mit noch mehr Komfort punkten wollen. "In diesen Bussen lassen sich die Sitze fast komplett zurückklappen", sagt Schwieterman. "Im Flugzeug wäre das unbezahlbar."

Die 200 Kilometer lange Strecke von Atlanta nach Chattanooga kostet im Greyhound regulär 63 Dollar (Hin- und Rückfahrt). Ähnlich wie bei der Deutschen Bahn zahlt jedoch kaum jemand den Normalpreis. Die Internetbuchung kostet nur 21 Dollar, was selbst beim aktuell günstigen Benzinpreis nahezu kein Auto toppen kann. Das Flugzeug schneidet am schlechtesten ab. Wer am Vortag ein Ticket kauft, muss mindestens 500 Dollar auf den Tisch legen. "Doch selbst wenn man rechtzeitig bucht, ist der Bus im Schnitt immer noch 79 Prozent billiger", so Schwieterman.

Ein Passagier führt ein Selbstgespräch

Zurück im Greyhound. Das Nuscheln in Reihe sechs beginnt nach einer halben Stunde: Ein Passagier führt ein Selbstgespräch. Als sich der Vordermann umdreht - fast alle Insassen sind männlich -, entwickelt sich ein skurriler Dialog. "Schöne Glatze", sagt der Mann aus Reihe sechs. "Danke, aber ich würde gerne schlafen", schallt es aus Reihe fünf zurück. Doch der Nuschler lässt sich nicht abwimmeln, streichelt ungefragt die Glatze des Vordermannes. Obwohl dieser Arme wie Rambo hat, nimmt er's gelassen: "Schön glatt, oder?", entgegnet er und rutscht auf den Nachbarsitz. Die Glatze ist außer Gefahr.

Ist diese Fahrt nun repräsentativ? Kann es in New York, Miami oder San Francisco nicht ganz anders zugehen? "Über unsere Kunden gibt es viele Fehlannahmen", sagt Bill Blankenship, Betriebsleiter bei Greyhound. "In Wahrheit verdienen 32 Prozent von ihnen mehr als 35 000 Dollar im Jahr. 75 Prozent haben studiert. Trotzdem fahren sie Bus, weil es eines der sichersten Transportmittel überhaupt ist." Während in Deutschland die ersten Anbieter schon wieder vom Markt verschwinden, sieht Verkehrsforscher Schwieterman in den USA noch immer ein "Riesenpotenzial".

Wenn man die Angebote in Europa und den USA vergleicht, fällt ein Faktor besonders ins Gewicht: die Rolle der Bahn. Von einem flächendeckend ausgebauten Zugverkehr können viele Amerikaner nur träumen. Im Mittleren Westen besitzen komplette Bundesstaaten keinen Anschluss. Selbst Großstädte sind abgehängt, so auch Chattanooga, immerhin die viertgrößte Stadt in Tennessee. Der historische Bahnhof dient dort nur noch als Kulisse. "Auch in Deutschland kann der Fernbus-Markt noch wachsen", glaubt Schwieterman. "Die Deutsche Bahn muss aufpassen, dass sie die jüngeren, technikaffinen Kunden nicht verliert." Kostenloses Internet müsse heute Standard sein, egal in welcher Klasse.

Jeder brüllt ins Handy

Als sich der Greyhound dem Ziel nähert, bricht an Bord Unruhe aus. Fast jeder brüllt nun ins Handy; es scheint, als hätten viele Reisende ihre Höflichkeit am Busbahnhof zurückgelassen. "Hol mich ab, du Penner!", schimpft ein Fahrgast. Ein junger Mann beschwört seine Mutter, "selbst mit der alten Karre" zur Haltestelle zu kommen. Nur der Mann aus Reihe sechs bekommt von der Aufregung nichts mit. Nach den erfolglosen Versuchen, seinen Vordermann zu berühren, ist er erschöpft eingeschlafen.

In Chattanooga hält der Bus an einer Greyhound-Station mitten im Nirgendwo. Die Hochhäuser zeichnen sich in der Ferne ab. Und wie kommt man nun von hieraus in die Stadt? "Am Ende der Straße gibt's einen Bus, der aber so gut wie nie fährt", sagt ein Mitarbeiter am Schalter. Die einzige Alternative: ein Taxi. Das kostet mit 30 Dollar mehr als die gesamte Busfahrt von Atlanta nach Chattanooga.

Kein Wunder, dass viele ihre Rucksäcke schultern und losmarschieren. Noch zwölf Kilometer bis Downtown.

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