Gotthardbahn:Der Berg ruft

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Am kommenden Wochenende feiert die spektakuläre Gotthardbahn ihren 125. Geburtstag. Die einmalige Verbindung aus Ingenieurkunst und Landschaft machte aus der verschlafenen Schweiz einen modernen Staat.

Renate Wolf-Götz

Es ist kurz nach Mitternacht, als der vollbeladene Güterzug in Arth-Goldau einfährt, aus nördlichen Regionen transportiert die Waggonschlange Waren Richtung Süden. Der Gotthard, das einst nahezu unbezwingbare Bergmassiv, ist nicht mehr weit - Zeit für den Lokwechsel. Statt der normalen E-Lok kommen jetzt zwei besonders leistungsstarke, rote Gotthardloks vor den schweren Zug; in beschaulichem Tempo steuert der ebenfalls eingewechselte Lokführer aus dem Tessin die schwergewichtigen Container durch den Zentralschweizer Kanton Uri auf Erstfeld zu, vorbei an Flüelen, wo der Vierwaldstätter See seinen südlichsten Punkt erreicht.

22.5.1882 - Eröffnungsfeier der Gotthardbahn. (Foto: Foto: SBB)

Eine dritte Lok muss jetzt am Zugende Anschubhilfe leisten, denn hier beginnt die legendäre Gotthardrampe, die volle Kraft erfordert. Gut 22 Promille Steigung - also 22 Meter Höhenunterschied auf 1000 Meter Strecke in der Ebene - stehen auf den knapp 30 Kilometer bis Göschenen bevor; eine Herausforderung für jeden Güterzug und gleichzeitig ein Problem für den rasant wachsenden Welthandel durch die Alpenrepublik. Immerhin 634 Höhenmeter muss das gewichtige Gut bis zum Nordportal des Gotthardtunnels nehmen.

Selbst das stärkste Triebfahrzeug würde da schlappmachen. Nach langem Tüfteln fanden die Ingenieure vor jetzt 125 Jahren eine beispielhafte Lösung: Sie planten Kehrtunnels zur Verlängerung des Schienenweges in die Trasse ein und entschärften so die steilsten Abschnitte.

In drei Schlaufen schrauben sich seither die Züge wie über eine Wendeltreppe um das winzige Bergdorf Wassen aufwärts und verschwinden kurz darauf in Göschenen in der schwarzen Röhre des Gotthardtunnels, dem 1150 Meter hohen Scheitelpunkt entgegen. Nach 15 Kilometer Strecke spuckt der mächtige Berg das mobile Warenlager im südlichen Airolo wieder aus.

Ein Zug hilft dem nächsten

Nächster Halt ist das Tessiner Städtchen Biasca. Über 46 Kilometer und 850 Höhenmeter geht es diesmal bergab. Trotz der vier Kehrtunnels nahe Faido muss der Lokführer kräftig bremsen, denn zu rasant darf die Talfahrt mit den vollbeladenen Waggons hinunter in die Leventina nicht werden. Allerdings: Die beim Bremsen freiwerdende Energie wird mit Hilfe moderner Technik in Strom umgewandelt und in die Oberleitung, ganz im Sinne der Umwelt, eingespeist - Energie, die bereits dem nächsten Zug bei der Auffahrt jenseits des Massivs über den Berg hilft.

Gotthard-Bahn
:Die Pionierstrecke

Ein genialer Baumeister und ein umstrittener Bankier schufen das Jahrhundertbauwerk Gotthardbahn. Beide erlebten die Fertigstellung nicht.

Nachts gehört der spektakuläre Schienenweg allein den Güterzügen, die noch heute rund die Hälfte der alpenüberquerenden Handelswaren vom Norden in den Süden und umgekehrt transportieren. Doch nicht allein den Güterverkehr wollte Alfred Escher 1863 ankurbeln, als er die Pionierstrecke durch das unwegsame Alpenland gegen erheblichen Widerstand durchsetzte; der Personenverkehr war dem Initiator der Gotthardstrecke ein ebenso wichtiges Anliegen.

Güterzüge bringen die Hälfte aller Waren über die Alpen. (Foto: Foto: SBB)

Mit unermüdlichem Einsatz wollte der ehrgeizige Wirtschaftspolitiker aus dem verschlafenen Bergland einen modernen Staat machen. Und das hieß, verlässliche Verkehrswege für die Menschen und den Handel zu schaffen. In Luzern gründete der Zürcher Bankier die "Vereinigung zur Anstrebung der Gotthardbahn" und warb für die private Finanzierung seines bahnbrechenden Schienenweges.

Sein Ziel war es, dass sich auch die Nachbarstaaten an den geplanten Baukosten in Höhe von 187 Millionen Franken beteiligen sollten - schließlich würden auch Deutschland und Italien von der Nord-Süd-Magistrale profitieren. 1872 wurde Alfred Escher an die Spitze der Gotthardbahn-Verwaltung berufen, Mitte 1873 begannen die Bauarbeiten an der Bahn.

Herzschlag kurz vor der Einweihung

Unterdessen hatte Bauingenieur Louis Favre mit seinen Plänen für das Jahrhundertbauwerk die internationale Konkurrenz abgehängt und den ersten Spatenstich gesetzt. Etliche Unwägbarkeiten musste der geniale Genfer Baumeister auf dem steinigen Weg durch den granitharten Berg überwinden, sodass ihn kurz vor Fertigstellung seines weltweit aufsehenerregenden Werkes dortselbst im Tunnel der Herzschlag traf.

Auch Gründervater Escher erlebte die feierliche Einweihung seines Lebenswerkes, der Gotthardbahnlinie mit ihren 32 Tunneln und 13 Viadukten, im Sommer 1882 nicht mit. Er war wegen zwischenzeitlicher finanzieller Engpässe als unerwünschte Person erklärt und mithin nicht eingeladen worden.

Noch heute ist die Faszination der bahntechnischen Errungenschaft von damals ungebrochen. 70 Züge befördern täglich etwa 10.000 Fahrgäste, die in nördlicher oder südlicher Richtung unterwegs sind. Nicht wenige Eisenbahnfans unter ihnen empfinden die einzelnen Etappen als ein unvergleichliches Erlebnis - wenn sich die Bahn etwa im 200-Höhenmeter-Takt über drei Schlaufen bergwärts windet und dabei das idyllische Wassener Kirchlein auf drei Ebenen umrundet, von unten, auf gleicher Höhe und schließlich von oben.

Das sei eben, so wird immer wieder gestaunt, eine einmalige Verbindung aus Ingenieurkunst und Landschaft. Und selbst im Düsteren des Tunnels, wo sich windende Steigungen nicht durch Bilder der Umgebung veranschaulicht werden, macht die halbvolle Wasserflasche des Gegenübers deutlich, wie steil es auf- und später wieder abwärts geht.

Doch nicht jeder Fahrgast findet an dem beschaulichen Tempo Vergnügen, für viele drängt die Zeit, man muss mit dem globalisierten Tempo Schritt halten. Gleiches gilt für den Gütertransport. Deshalb haben die Schweizer vor mehr als zehn Jahren bereits grünes Licht für die neuen Alpentransversalen Gotthard- und Lötschbergtunnel, kurz: Neat, gegeben.

In Erstfeld werden die Züge von 2016 an bereits in den mit 57 Kilometer dann weltweit längsten Tunnel eintauchen und auf der nur noch moderat ansteigenden Strecke mit 250 km/h Richtung Süden und umgekehrt brettern (die SZ berichtete). Bei den Güterzügen bleibt die Geschwindigkeit mit maximal 120 km/h zwar gemäßigter; dafür verdoppelt sich die Transportkapazität. Wieder eine Pionierleistung.

Zukunft als Nostalgie-Strecke?

Die Jahre der altehrwürdigen Gotthardbahnlinie sind also gezählt. Noch ist ungewiss, ob die Schweizer Politiker mit der Eröffnung der staatlich finanzierten Hochleistungsstrecke den altbewährten Schienenweg schließen werden oder die Strecke wenigstens als nostalgisch-vergnüglichen Reiseweg erhalten - zu hoffen wäre das allemal. Und so wird am kommenden Wochenende, am 8. und 9. September, in Erstfeld und Biasca der 125. Geburtstag der Gotthardbahn offiziell gefeiert. Neben einer umfangreichen Ausstellung und der Parade alter und neuer Lokomotiven haben die Geburtstagsgäste auch Gelegenheit zu Fahrten mit historischen und modernen Zügen.

© SZ vom 1.9.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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