Genfer Autosalon 2017:VW will Teil der digitalen Popkultur werden

VW Sedric auf dem Genfer Autosalon 2017

Die VW-Konzeptstudie Sedric fährt autonom und verfügt konsequenterweise weder über Lenkrad noch Pedale.

(Foto: dpa-tmn)

Elektrisch, autonom, erschwinglich: Modelle wie die Konzeptstudie Sedric sollen Autos zum engsten Freund der Familie machen. VW kann mit dieser Strategie durchstarten - oder abstürzen.

Von Joachim Becker

Alles neu, alles super: Genf bleibt der Schönheitssalon der Autoindustrie. Im Grunde gibt es an jedem Stand die Einheitswelle: Noch ein SUV und noch ein Sportwagen mit vier Türen (Gran Turismo oder GT). Das Mercedes AMG GT Concept ist nicht die einzige Verneigung vor dem Porsche Panamera. Wie in der Mode wird Ideen-Recycling großgeschrieben. Der Kunde will es so, die Geschäfte laufen blendend. Wahrer Luxus ist schließlich zeitlos. Also gönnt man sich in Genf den Luxus, den (digitalen) Wandel weitgehend auszublenden.

Genf ist keine Technologie- sondern eine Verkaufmesse. Nur Bares ist Wahres. Und bisher reißen sich die Kunden ja nicht wirklich um alternative Antriebe - weder die Otto Normalverbraucher noch die Reichen und Schönen im Luxussegment. Man muss also schon genauer hinschauen, um auf Toyotas elektrisch angetriebenen Kabinenroller i-Tril aufmerksam zu werden. Oder auf das FE Fuel Cell Concept von Hyundai. Der weiterentwickelte Brennstoffzellenantrieb soll mit einer Tankfüllung 800 Kilometer schaffen. Sollte ein großes Serien-SUV mit dem Wasserstoffantrieb nächstes Jahr tatsächlich über 500 Kilometer weit kommen, hätten große Batterieautos ein Problem.

Auch Volkswagen übt den Genf-Spagat: Einerseits Mainstream, andererseits Schwimmen gegen den Strom. Voll im Trend liegt der neue VW Arteon. Der Nachfolger des biederen Passat CC tankt brav Benzin oder Diesel, doch seine Passagiere scheinen eher Sekt als Selters zu trinken: "Mit diesem Auto beginnt - wie 2015 prognostiziert - eine neue Design-Ära", verspricht Chef-Gestalter Klaus Bischof. Dass VWs Topmodell ein weiterer Schrägheck-GT ist, tut der Aufbruchstimmung keinen Abbruch. Immerhin liegt der Arteon mit einem Einstiegspreis von weniger als 35 000 Euro deutlich unter dem Niveau der Premiummarken.

In jeder Hinsicht kantiger als das glattgeföhnte Coupé mit vier Türen ist ein pummeliger Kastenwagen namens Sedric. Der Fahr-Container auf der Grundfläche eines VW Up verzichtet auf Lenkrad und Pedale. Erschwerend kommt hinzu, dass er mit dem eingerahmtem Gesicht und Puschelohren (Laser-Scannern) wie ein Teletubbi aussieht. Vollends zum Ufo wird der futuristische Bulli durch seine No-Brand-Strategie. Auf der Steilwand und den abgedeckten Rädern prangt kein Luxus-Label mit wiedererkennbarer Gestaltungshistorie. Am Marken-verliebten Lac Léman wirkt das erste Konzeptfahrzeug des Volkswagen-Konzerns daher wie ein Fremdkörper: Wenn schon Fortschritt, dann bitte zuerst in der Oberliga. Ein autonomes Familienauto, dass viel klüger ist als eine Chauffeurslimousine - unerhört!

Der integrierte Chauffeur wird zum Freund der Familie

Dabei ist Sedric ja genau das: die Chauffeurslimousine der Zukunft. Womit nicht nur das Prestige-Denken, sondern auch die etablierten Geschäftsmodelle in Frage gestellt werden: Ist das noch ein Privatauto mit der persönlichen Duftnote und dem halben Hausstand in diversen Ablagen und Fächern? Oder kehrt Sedric zu den Volkswagen-Wurzeln zurück: Zur individuellen Mobilität für wirklich alle? "Meine Vision ist eine Demokratisierung der Fortbewegung. Für Blinde, für Alte, für Kranke, für Kinder", sagt Johann Jungwirth.

Der Chief Digital Officer von Volkswagen will den integrierten Chauffeur zum engsten Freund der Familie machen: eine selbststeuernde Couch für den Weg zur Schule und zum Sport, die zwischenzeitlich als Büro dient und mit autonomen Taxifahrten auch noch Geld verdienen kann. "Fahrzeuge ohne Lenkrad und Pedale sind die Neuerfindung der individuellen Mobilität. Ich persönlich glaube wirklich: Wir stehen wieder an so einer Epochenschwelle wie damals beim Umstieg vom Pferd aufs Auto", so Jungwirth.

"Think big" - dieses Credo ist ihm gut vertraut. 2015 kam er von Apple zu VW, sieben Jahre Silicon Valley (auch als Leiter des dortigen Daimler-Technologiezentrums) haben sein visionäres Denken geprägt. "Weil ich damals wusste und heute weiß, wo Apple, Uber und Google beim autonomen Fahren stehen, treibe ich das Thema im Konzern mit aller Energie voran."

Der VW Sedric ist wie der iPod Nano

Auch Konzernchef Matthias Müller glaubt an die autonomen Autos. Mehrere Milliarden Euro will er in die neue Technologie-Plattform stecken, die den Konzernmarken zugutekommen soll. Böse Zungen halten das Zukunftsprojekt für ein Ablenkungsmanöver vom Diesel-Abgas-Skandal. Jungwirth spricht dagegen von einem konsequenten technologischen Schritt. Er verweist auf die autonome Fahrwegsplanung, die durch künstliche Intelligenz enorme Fortschritte mache. Zudem würde die Umfelderkennung durch neue Sensoren erleichtert. "Wir werden das in den nächsten drei bis vier Jahren umsetzen. Anfang des nächsten Jahrzehnts werden wir in den ersten Städten mit Fahrzeugen ohne Lenkrad und Pedale unterwegs sein", ist sich der Volkswagen-Vordenker sicher.

In der Genfer Glitzerwelt sind solche Visionen kein Thema. Man stelle sich People Mover wie Sedric auf den Ständen der Nachrüster und Veredler vor. Aber warum eigentlich nicht? Sie könnten sich wie heutzutage um das digitale Tuning des Interieurs kümmern. Pimp my ride! Prompt würde der Autosalon neue und vor allem jüngere Zielgruppen erschließen. Interessant für solche Digital Natives wäre wohl auch der neue Funkschlüssel, mit dem sich das Auto-Auto herbeirufen lässt. Der kleine Universalbenutzer mit dem leuchtenden, ringförmigem Bedienknopf erinnert an den iPod Nanno: Apples kleinste Jukebox öffnete die Tür zu einer geteilten und überall verfügbaren Musikwelt. Volkswagen will diesen mobilen Lebensstil um das geteilte und daher erschwingliche autonome Fahren erweitern. Automobile Popkultur sozusagen gegen exklusive Herrschaftstechnologien der Eliten.

2020 soll der elektrische VW I.D. kommen

Es ist kein Zufall, dass Sedric nicht auf einem Porsche- oder Audi-Stand zu besichtigen ist. Die Ingolstädter wollten ein ähnliches City-Konzeptfahrzeug bereits im vergangenen Herbst auf der Automesse in Paris zeigen. Doch bei wesentlichen Zukunftsthemen spielt die Musik künftig in Wolfsburg. Das gilt auch und gerade für die Elektromobilität: "Die alte Logik, Innovationen von den Premium-Marken top-down einzuführen, ist vorüber", stellt Christian Senger klar. Der Leiter Baureihe e-Mobility bei Volkswagen drückt gewaltig aufs Tempo. Bis 2020 muss der vollelektrische VW I.D. in Topqualität zu günstigen Preisen vom Band laufen: "Es gibt überhaupt keinen Grund, warum wir nicht so innovativ wie die Start-ups für Elektromobilität in China sein sollen", betont der ehemalige BMW-i-Manager.

Senger weiß, dass es nicht genügt, nur den Batterieantrieb in die Großserie zu bringen. Er braucht auch eine neue Elektronikarchitektur, um vorne zu bleiben. "Elektromobilität hat per se keine Hartverknotung mit digitalen Services, aber sie ist der perfekte Eisbrecher dafür. Bei Volkswagen knüpfen wir viele Schlüsseltechnologien an die Einführung des Modularen Elektro-Baukastens," verrät der 42-Jährige. Damit meint er zum Beispiel ein innovatives Elektronik-Bordnetz, das auch Porsche und Audi nutzen werden. "Volkswagen wird das im Volumen bringen, was sonst Premium-Herstellern vorbehalten ist: Cluster-Architekturen wie bei Großrechnern, die flexibel Funktionen übernehmen können." Nicht nur der Flohzirkus verstreuter Steuergeräte soll stark reduziert werden. Wenige zentrale Datenspeicher und Rechenzentren lassen sich auch einfacher per Updates über die Luftschnittstelle aktualisieren.

Eine Steilwandfahrt in die Zukunft

Multimediale Dienste der Extraklasse, aber auch lokal basierte Services rund um das vernetzte Auto: Was momentan bei BMW Connected und Mercedes Me anläuft, will auch "New Volkswagen" nutzen. "Es wird ein neues 'Cool' geben" prognostiziert Christian Senger. Die Kunden sollen sich wie bei Apple und Google in einem digitalen Ökosystem häuslich einrichten, das viele zusätzliche Dienstleistungen - und Einnahmequellen - bietet. "Wir glauben, dass digitale Services in Zukunft einen relevanten Anteil des Geschäfts darstellen. Deshalb muss das Auto andere Fähigkeiten mitbringen als bisher."

Das alles kostet enorm viel Geld. Zusätzlich zum Elektroantrieb und zum Mega-Projekt autonomes Fahren. Noch weiß niemand, wie man mit Elektrofahrzeugen wirklich Profit macht. Dabei ist der Volumendruck enorm: Es bleibe bei der Anzahl von zwei bis drei Millionen Elektrofahrzeugen bis 2025 auf Konzernebene und von über einer Million bei der Marke Volkswagen, betont Senger: "Das können wir nicht quersubventionieren nach dem Motto 'Verbrenner fördert Elektromobilität'." Elektroautos müssten ab 2020 ein sich selbst tragendes Geschäftsfeld sein - und zwar nicht nur in höheren und höchsten Preisregionen, sondern mitten drin im Massenmarkt.

"New Volkswagen" ist also eine Steilwandfahrt in die Zukunft. Im Trubel der Gute-Laune-Animationen findet das Kunststück in Genf wenig Beachtung - hinter den Kulissen der Autobranche dagegen um so mehr: Werden die Wolfsburger mit ihrer riskanten Strategie abstürzen oder durchstarten? Ausgang offen.

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