Fahrbericht Mercedes X-Klasse:Mercedes entdeckt das Phänomen Pritschenwagen

Mercedes-Benz X-Klasse âē Progressive Exterieur

Die neue Mercedes X-Klasse, der erste Pick-up der Marke, kostet mindestens 37 295 Euro.

(Foto: Daimler AG)

Pick-ups sind nicht mehr nur in den USA angesagt. Mercedes steigt jetzt in den Markt ein und preist die Vielseitigkeit seiner neuen X-Klasse. In der Stadt wird das Auto allerdings zur Bürde.

Von Michael Specht

Ein wenig Wilder Westen gibt es an jeder Straßenecke der USA. "In jedem Pick-up steckt noch immer ein Stück Cowboy", sagt Ford-Manager Mark Truby, "diese Art von Auto verkörpert Freiheit und Männlichkeit." Außerdem zählen Pick-ups seiner Meinung nach zu den nützlichsten Fahrzeugen überhaupt.

Das sehen offensichtlich viele Amerikaner so ähnlich. Bei den Neuzulassungen übertreffen Pick-ups wie beispielsweise der Ford F 150 sämtliche SUV und Pkw bei Weitem. Seit mehr als 30 Jahren in Folge ist besagtes Ford-Modell zudem das in den USA am meisten verkaufte Auto überhaupt. Täglich kommen 2000 der "Trucks" genannten Gefährte neu auf die Straßen. Zusammen füllen die "Big Three", General Motors, Ford und Chrysler, jährlich mit der unglaublichen Menge von etwa 2,5 Millionen neuen Exemplaren die US-Highways.

Auch in Asien, Afrika und Südamerika prägen Pritschenwagen das Straßenbild, dort nur eine Nummer kleiner. Die sogenannten Mid-Size-Pick-ups transportieren so ziemlich alles, was sich irgendwie festzurren lässt - Kisten, Kühlschränke oder Kamele. Bisweilen nutzen ganze Familien die offene Pritsche für die Fahrt in die nächste Stadt. In dem Segment werden weltweit 2,2 Millionen Autos pro Jahr verkauft. Fachleute erwarten in den nächsten zehn Jahren global einen Anstieg auf über drei Millionen Mini-Laster, obwohl immer mehr Menschen in urbanen Ballungsgebieten leben werden.

Toyota hat an dem lukrativen Geschäft bislang den größten Anteil: Der Hilux - er genießt den Ruf der Unverwüstlichkeit - fährt in seiner Klasse fast überall an der Spitze der Zulassungsstatistik. Der Ford Ranger kommt auf jährlich 270 000, Mitsubishi mit dem L 200 auf 150 000 Einheiten.

Gedacht für Leute mit viel Geld und Freizeitstress

Solche Zahlen rufen selbst Hersteller auf den Plan, denen man noch vor einigen Jahren einen Pick-up kaum zugetraut hätte. Mercedes zum Beispiel. Doch die Luxusmarke begibt sich allen Ernstes auf das rustikale Terrain. Allerdings ist die X-Klasse weniger für Kuhhirten und Kameltreiber, sondern für Leute mit viel Geld und Freizeitstress gedacht. In etwa gleichzeitig bringt Renault einen eigenen Laster auf den Markt. Der Alaskan ist auch bei den Franzosen der erste Pick-up im Portfolio.

Dass sich in Deutschland die ganze Sache in homöopathischen Dosen abspielen wird, stört die Hersteller nicht. Es gibt auf unseren Straßen mehr Elektroautos als Pick-ups. Aber das kann man ja ändern - Klimaziele hin oder her. "Kunden entdecken die Vielseitigkeit und den hohen Nutzwert eines Pick-ups", meint Marion Friese, Produktmanagerin bei Mercedes-Benz Vans. Die Stuttgarter zielen damit nicht nur auf Gewerbetreibende, Kommunen oder Förster, sondern auch verstärkt auf Privatleute, denen die Pritsche zum Transport vielfältiger Güter dient, egal, ob Kaminholz oder Cross-Motorrad. Auch als Zugmaschinen sollen sich Pick-ups nützlich machen. Mit der X-Klasse lassen sich Pferde- oder Bootsanhänger bis zu 3,5 Tonnen an den Haken nehmen.

Eng verwandt mit Nissan Navara und Renault Alaskan

Um die Entwicklungskosten im Rahmen zu halten, hat Mercedes die X-Klasse nicht von einem weißen Blatt Papier aus begonnen. Sie gleicht technisch weitgehend dem Nissan Navara und besagtem Renault Alaskan. Auch die Motoren und Getriebe wurden vom japanisch-französischen Partner übernommen. Alle drei Modelle laufen in Barcelona vom Band. Dennoch wollen sich die Stuttgarter von den Kooperationsfirmen so weit wie möglich abheben - vor allem beim Design. Deshalb gleicht kein Blechteil dem der beiden Brüder. Man ging sogar soweit, die Karosserie fünf Zentimeter breiter zu gestalten. Damit kann nicht einmal mehr die Windschutzscheibe gemeinsam verwendet werden.

Auch im Innenraum hieß die Devise: Es muss ein Mercedes sein. So erinnert das Armaturenbrett in der X- stark an die V-Klasse - gleiche Instrumente, gleiche Schalterleiste, gleiches freistehendes Display. "Wir wollten ein Coming-Home-Gefühl erzeugen", sagt Kai Sieber, Designchef bei Mercedes-Benz Vans. Leider hat man am falschen Ende gespart und die Lenksäule nur in Höhe und Tiefe verstellbar gemacht, nicht jedoch in Längsrichtung. Das mag für viele, aber eben nicht für alle ausreichen und vereitelt mitunter eine wirklich entspannte Sitzposition.

Deutlich länger als die S-Klasse

Die X-Klasse gibt es ausschließlich als Doppelkabine, also als Fünfsitzer. Der Preis beginnt bei 37 295 Euro. Doch kaum ein Kunde wird es dabei bewenden lassen: Das Basismodell fährt in tristem Outfit vor. Zudem sind 163 PS, Hinterradantrieb und Handschaltung für ein Auto dieses Formats recht mager. Die getestete 190-PS-Version mit Sechsgang-Automatik und zuschaltbarem Allradantrieb kostet wenigstens 41 781 Euro.

Überraschend ist, wie fest und solide sich die X-Klasse anfühlt, wie leise und komfortabel sie fährt. Die Entwickler betonen, sie hätten viel Aufwand bei der Geräuschdämmung und bei der Fahrwerksabstimmung getrieben. Die X-Klasse erhielt im Vergleich zu Navara und Alaskan eine breitere Hinterachse, eine andere Geometrie und andere Lager, alles mit dem Ziel, den Laster locker über Löcher und cool um die Kurven gehen zu lassen. Selbst längere Autobahnstrecken sollten so möglich sein.

Schnell an ihre Grenzen gelangt die X-Klasse aber in der Stadt. Mit einer Länge von 5,34 Meter übertrifft sie sogar die S-Klasse deutlich. Hinzu kommen 1,92 Meter Breite und 1,82 Meter Höhe. Das Auto ist ein klotziger Fremdkörper auf deutschen Straßen und man ist dankbar für jedes Assistenzsystem. Auch die serienmäßige 360-Grad-Kamera hilft, Schäden am eigenen und an fremden Fahrzeugen zu vermeiden. Angesichts der Parkplatznot dürfte die schiere Größe einer weiteren Verbreitung in Deutschland und Europa entgegenstehen. Mögen die Marketingleute diese Fahrzeuggattung auch noch so sehr auf modernen Lifestyle und Abenteuer trimmen.

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