Elektro-Grand-Prix in Berlin:Die Formel E trifft den Zeitgeist

Lucas di Grassi beim Formel-E-Rennen in Paris.

Ex-F1-Fahrer Lucas di Grassi ist für das Abt-Team erfolgreich in der Formel E unterwegs.

(Foto: AP)

Erschwinglich, locker und unterhaltsam: Die Elektroauto-Rennserie ist viel von dem, was die Formel 1 nicht mehr ist. Das zieht immer mehr Fans an - und auch die Autohersteller.

Reportage von Georg Kacher

Zehn Minuten bis zum Start: Die Ordner blasen zum Rückzug ins Fahrerlager. Noch schnell ein Selfie mit Vater und Sohn Abt, ein kurzer aufmunternder Blickkontakt mit der einzigen Dame im Feld, ein Autogramm von Monsieur Hakennase alias Alain Prost. Dann geht's hinauf auf die Tribüne, zum Einheitspreis von umgerechnet rund 120 Euro für die gesamte Familie, den ganzen langen Rennsamstag. Nur Burger, Coke und Devotionalien gehen extra. Normalerweise ist nicht einmal eine Parkgebühr fällig, denn alle elf Rennen finden im Zentrum großer Metropolen statt. Anreise öffentlich, Abreise öffentlich, CO₂-Emission null Komma null, der Planet dankt. Hier in Long Beach, wo Busse und Bahnen leider Mangelware sind, muss sich der Zuschauer anders behelfen.

Der Kurs ist zwar keine urbane Nordschleife, aber die Schikane hat's in sich, und wer den Bremspunkt verpasst oder zu spät einlenkt, kracht unweigerlich in die Auslaufzone aus hüfthohen Betonabweisern. Im Parc Fermé herrscht dagegen entspannte Betriebsamkeit. Pro Team sind vier Autos am Start, doch am Freitag darf nur geschraubt, aber nicht gefahren werden. Stattdessen nimmt uns Nelson Piquet junior mit zum Gokart-Palast. "Meine Chancen für das Rennen? Durchwachsen. Wir sind nicht da, wo wir hinwollen."

Die Formel E in Berlin

Am Wochenende 21./22. Mai 2016 gastiert die Formel E in Berlin. Nach dem Debüt im vergangenen Jahr auf dem Flughafen Tempelhof, das immerhin 20 000 Zuschauer sahen, findet der Berlin E-Prix diesmal mitten in der City statt - auf der Karl-Marx-Allee und rund um den Strausberger Platz in Mitte/Friedrichshain. 48 Runden legen die 22 Rennfahrzeuge auf der 2,03 Kilometer langen Strecke mit insgesamt elf Kurven und einer Schikane zurück, was eine Gesamtdistanz von knapp 100 Kilometern bedeutet. Als einer der Favoriten auf den Sieg gilt Lucas di Grassi vom Kemptener Team Abt. Weitere Informationen findet man im Netz unter http://e-formel.de.

Der Formel-E-Erfinder ist ein sympathischer Pfau

Der Formel-E-Zirkus ist eine bunte Mischung aus in verschiedensten Rennserien gestählten Mechanikern, von zweitklassigen F1-Teams frustrierten Managern, blutjungen Elektronik-Nerds, zerstreuten Vertretern der Batterie-Zunft, Marketing-Querdenkern, Medienprofis und bunten Hunden, die sich in den sozialen Netzwerken einen Namen gemacht haben.

Über allen thront Alejandro Agag, ein sympathischer Pfau und der Erfinder der Formel E, die im September 2014 ihr erstes Rennen austrug. Der Spanier denkt nicht nur in harter Währung, sondern auch in Bits und Bytes. "In den nächsten fünf Jahren wird es eine technische Explosion geben", prophezeit er, "bei den Autos, in Sachen Antrieb, Elektrik und Elektronik. Vor allem in Bezug auf das digitale Umfeld. Millionen von jungen Fans werden sich für die Formel E begeistern, aktiv mitmachen, neue Interaktionsebenen mit neuen digitalen Welten verknüpfen. Statt wie heute 20 000 User pro Tag sind bald fünf Millionen oder mehr unterwegs."

Die Akustik? Mozart statt Motörhead

Samstag ist Renntag. Frühaufstehern wird ab Viertel nach acht Uhr das erste freie Training serviert. Formel E live, das heißt nicht nur flüsterleise Vorbeifahrten, sondern auch kreischendes Aufheulen beim Wegfahren, Hochschaltjaulen im Stakkatotakt, dumpfes Rekuperationswummern beim Anbremsen der langsamen Kurven. Akustisch verhält sich die Formel E zur Formel 1 wie Mozart zu Motörhead - trommelfell-schonender, aber nicht weniger emotional.

Der erste Schritt zur Startaufstellung ist eine Lotterie: 18 Fahrer werden von der Glücksfee in vier Gruppen eingeteilt. Die Sieger kämpfen in nur einer gezeiteten Runde um die Super Pole. Zwischen den vier Trainingssitzungen darf vier Minuten lang verschnauft werden. Die besten Chancen auf den meisten Grip und die schnellste Strecke hat der Schlussfahrer der letzten Gruppe. Für das Qualifying wird die Leistung der E-Motoren von 170 auf 200 kW angehoben.

Das Einheitschassis stammt von Dallara, für die Reifen ist Michelin zuständig, die Batterie wird von Williams konfektioniert. "Trotzdem sind nicht alle Autos gleich schnell", sagt grinsend Mark Preston, der Teamchef von Aguri. "Das liegt am Feintuning des Fahrwerks und am Getriebe, wo von einem bis fünf Gängen alles erlaubt ist - sogar superleichte Gehäuse aus Kohlefaser. Viel hängt auch vom Fahrer ab. Wer mit seinem Energievorrat haushält, kann vor dem Wagenwechsel unter Umständen eine Runde länger draußen bleiben."

Viele namhafte Hersteller wollen mitmachen

Wagenwechsel? Zur Hälfte des Rennens, wenn die Akkus ausgelaugt sind, steigen die Jockeys um auf frisch geladene E-Pferde. Das läuft nur selten glatt, denn mal hakt der Gurt, mal sträubt sich das Getriebe, mal klemmt's bei der Abfahrt aus der Box. Das erhöht die Spannung, aber weil die Batterien immer besser werden, soll der Fahrzeugtausch nach halber Distanz 2018 abgeschafft werden. Dann kommt auch ein neues Reglement mit mehr Freiheiten für die beteiligten Konstrukteure.

Für die Autohersteller erhöht das den Reiz mitzumachen. Erwartet werden auf der Bühne BMW, Honda, AMG Mercedes, Nissan und noch eine weitere Marke. Jaguar Williams startet noch in diesem Jahr zum ersten Mal. "Ein großer Vorteil der Formel E ist das gedeckelte Budget", weiß Keith Smout, der bei Dragon Racing für das Geschäftliche zuständig ist. "In der Formel 1 stehen bis zu 150 Mitarbeiter auf der Lohnliste, in der Formel E sind es nur 15 bis 20. Die Big Boys dürfen pro Saison bis zu 100 Millionen Euro ausgeben, wir müssen uns dagegen mit fünf bis sechs Millionen bescheiden. Das teuerste Ersatzteil ist die Batterie, die knapp 100 000 Euro kostet, aber nur selten kaputtgeht."

Hans-Jürgen Abt, dessen Fahrer in Long Beach die Plätze eins und drei belegten, kooperiert in der Formel E mit dem Systemlieferanten Schaeffler. "Was wir hier erleben, ist der Brückenschlag zur Serie. Und zwar in Bezug auf ganz essenzielle Themen wie Kühlung, Ansprechverhalten, Software, Antriebsmanagement. Gleichzeitig zieht die Formel E das breite Publikum in ihren Bann. Warum? Weil heute fast alles über online läuft, weil im Sog von Apple und Tesla ganz neue Märkte entstehen, weil hier auch große Hersteller wie VW einsteigen werden."

Große Fannähe und viel Action auf der Strecke

Die Zuschauer können das Rennen auf großen Bildschirmen verfolgen, wo neben den Zeitabständen auch die Restenergie der einzelnen Autos in Prozent gelistet wird. Und zwischen Training und Rennen gibt's Motorsport zum Anfassen. Nach der Autogrammstunde mit allen Fahrern wird die Boxengasse von den Fans geflutet - ohne despotische Ordner und großflächige Sperrzonen.

Das Rennen beginnt erst um 16.04 Uhr, aber es dauert auch nur knapp 50 Minuten, denn nach 40 Runden sind die Akkus reif für die Steckdose. Weil alle Autos mit dem gleichen, 170 kW/28 kWh starken Kraftpaket antreten, sind Action und Spannung programmiert. Während es an der Spitze fast immer sehr eng zugeht, teilen sich die schwächeren Fahrer und die Teams mit Gewichtshandicap die hinteren Plätze. Da hilft manchmal nur Fanboost, eine Online-Abstimmung live und per Smartphone, die den Autos der drei beliebtesten Fahrer eine zeitlich begrenzte Leistungsspritze verpasst, die an den push-to-pass-Effekt der F1 erinnert.

In 2,5 Sekunden von null auf hundert

Was die Formel E aus Sicht der Fahrer auszeichnet? "Stadtkurse sind anspruchsvoller als so manche Retortenstrecke", sagt Nick Heidfeld noch kurz vor dem Start. "Die Höchstgeschwindigkeit liegt zwar nur bei rund 220 km/h, dafür beschleunigen die Autos in nur 2,5 Sekunden von 0 auf 100 km/h."

Fest steht, dass sich die Formel E in überraschend kurzer Zeit zu einer attraktiven Rennserie entwickelt hat, Doch der Hauptaktionär Liberty Media (National Geographic) und Gründer Agag wollen die Formel E zu einer "weltweiten Motorsport-Unterhaltungs-Plattform ausbauen," die mittelfristig auch auf klassischen Strecken wie Spa ausgetragen wird. Ebenso geplant sind Wettbewerbe mit autonomen Rennwagen, interaktive Rennen mit realem oder virtuellem Verlauf, oder Rennsimulator mit Profi-Fahrern als Gegner. Moderne Zeiten eben.

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