Critical-Mass-Bewegung:Der Asphalt gehört den Radfahrern

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Aufsehenerregend: die Zusammenkunft Tausender Critical-Mass-Anhänger in Budapest vor zehn Jahren. (Foto: AFP)

Diese Ansicht vertreten die Aktivisten der Critical-Mass-Bewegung. In organisierten Großaktionen legen sie immer wieder ganze Straßen lahm. Doch nicht jeder Teilnehmer verfolgt politische Ziele.

Von Titus Arnu

Motorräder, Taxis und Angeber-SUVs rasen mit überhöhter Geschwindigkeit durch die Nacht, doch Bernd-Michael Paschke überquert mit seinem Trekkingrad unerschrocken den Berliner Ku'damm. Er tritt kurz etwas fester in die Pedale, um schnell rüber zu kommen in die Knesebeckstraße. Dann radelt er wieder mittelgemütlich durch das nasse, graue Berlin, während um ihn herum der Verkehr tobt. Dabei redet und gestikuliert er, schwärmt von Sternfahrten, Gruppentouren und dem Zauber des ersten Morgenlichts nach einer 24-Stunden-Fahrt in Richtung Polen. "Magisch."

Paschke ist überzeugter Radfahrer, er legt pro Monat um die 1000 Kilometer zurück. Sein Auto, einen Wartburg, gab er nach einem Unfall vor gut 20 Jahren ab und benutzt seitdem konsequent nur noch Rad und öffentlichen Verkehr. Kurz danach stieß er auf Critical Mass, eine anonyme Bewegung von Fahrrad-Enthusiasten, die sich regelmäßig zu Massen-Radtouren treffen. "Dort bin ich eine Ausnahmeerscheinung - alt und dick", sagt der frühere Computerprogrammierer mit einem Lächeln, "die sind alle unter 30 und topfit." Paschke ist Anfang 60. Und er schaffe es, 250 Kilometer am Stück zu radeln, sagt er nicht ohne Stolz.

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Die Idee hinter der Critical-Mass-Bewegung: Alleine oder zu zweit hat man als Radfahrer im Autoverkehr einer Großstadt wie Berlin, München oder Hamburg immer die schlechteren Karten. Was aber, wenn sich Dutzende, Hunderte, Tausende Radler zusammenrotten und sich den öffentlichen Raum zurückerobern?

Wie bei einem Flashmob treffen sich die Radler scheinbar spontan und unorganisiert zu gemeinsamen Radtouren ohne konkretes Ziel. In Wirklichkeit gibt es eine App und feste Termine (immer am letzten Freitag im Monat). Eines der größten Treffen mit 100 000 Teilnehmern fand 2013 in Budapest statt. Manchmal stellen sich die Teilnehmer tot und werfen sich auf die Fahrbahn, manchmal wird mitten auf sechsspurigen Straßen gegrillt. Die Bewegung entstand 1992 in San Francisco, die erste deutsche Critical Mass wurde vor 20 Jahren im Herbst 1997 in Berlin ins Leben gerufen.

Manche Autofahrer fühlen sich provoziert

Natürlich fühlen sich motorisierte Verkehrsteilnehmer durch die Anwesenheit von Hunderten oder gar Tausenden Radlern auf Hauptverkehrsstraßen auch provoziert. Bei einer Rundfahrt in Hamburg vor einigen Wochen verlor ein 70-jähriger Autofahrer die Geduld - er stieg aufs Gaspedal, fuhr mehrere Radler an und versuchte zu flüchten. Ein Polizist verfolgte und stellte ihn, er schlug auf den Beamten ein. Der Autofahrer wurde festgenommen und regte sich dabei so sehr auf, wie die Polizei mitteilte, dass er mit Herzproblemen ins Krankenhaus gebracht werden musste.

Auch zwischen Radfahrern und Polizei kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen. Bei früheren Critical-Mass-Aktionen in Berlin spielten Radler und Ordnungshüter regelmäßig Katz und Maus. Meist gewannen die Radler, weil sie schnell in alle Richtungen verschwanden und durch Parks und über Gehwege flüchteten. Manchmal aber auch die Polizei. Seit Bernd-Michael Paschke mit jungen Radlerinnen eingekesselt wurde und seine Personalien angeben musste, setzt er eher auf Kooperation.

Die Veranstaltungen sind nicht als Demonstration angemeldet, aber die Polizei weiß, wann sich die Radler treffen, und kann darauf achten, dass möglichst keine Unfälle passieren. "Kein gesunder Autofahrer wünscht sich einen Radler auf der Motorhaube", sagt Bernd-Michael Paschke. Er glaubt, wenn die Leute mehr Sichtkontakt aufnehmen und in ähnlicherem Tempo unterwegs wären, käme es zu weniger Unfällen zwischen Rad und Auto.

Die Critical-Mass-Teilnehmer halten sich an die Verkehrsregeln. Weitgehend. Ein einzelner Fahrradfahrer muss auf dem Radweg fahren, sofern die Beschilderung dies vorschreibt, aber eine Gruppe nicht unbedingt. Mehr als 15 Radfahrer dürfen laut Straßenverkehrsordnung einen "geschlossenen Verband" bilden, der als solcher für die anderen Verkehrsteilnehmer erkennbar sein muss. Ein geschlossener Verband darf sich so auf der Straße bewegen, als wäre er ein Pferdefuhrwerk - zum Beispiel darf das hintere Ende des Verbands noch über eine Ampel fahren, wenn sie auf Rot umschaltet und der vordere Teil schon durch ist.

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Manchmal dauert eine Ampelüberquerung 22 Minuten

Im Verband dürfen auch mehrere Fahrräder nebeneinander fahren - allerdings nur, wenn dadurch der nachfolgende Verkehr nicht behindert wird. Was das genau bedeutet, ist Auslegungssache. Bei einer Massenausfahrt in Berlin kann es deshalb schon mal dauern, bis die Fahrbahn wieder frei ist für den Autoverkehr. "Ich habe mal mitgefilmt, es ging 22 Minuten, bis keine Räder mehr kamen", sagt Paschke. Für manch einen Autofahrer ist nach zwei, drei Minuten Wartezeit allerdings schon der kritische Punkt erreicht.

Bei Gruppenausfahrten werden Radler ganz sicher nicht übersehen. Einzelnen Radlern passiert das leider immer wieder. Bei einem Unfall in Kreuzberg vergangene Woche wurde ein Radler schwer verletzt, ein Autofahrer hatte in der engen Straße unachtsam die Tür geöffnet. Die Organisation "Volksentscheid Fahrrad" hatte wegen des Vorfalls am Sonntag zu einem "Sit-in" aufgerufen. Für ein Fahrrad-Volksbegehren sammelte die Initiative 100 000 Unterschriften, sie fordert ein Gesetz, das unter anderem breite Radwege an jeder Hauptstraße vorsieht.

"Wir sind eher eine Sportgruppe als eine Demo"

"Man braucht individuelle Lösungen für jede Straße", sagt Paschke, "man kann nicht pauschal sagen: mehr Radwege, und alles wird gut." Konkrete politische Forderungen hat Critical Mass nicht auf der Agenda, zumal es sich eben um eine Gruppe anonymer Gleichgesinnter und nicht um einen Verein handele und es keinen offiziellen Sprecher gebe, "wir sind eher eine Sportgruppe als eine Demo".

Grischa Weberstädt, einer seiner Radweggenossen an diesem Tag, ergänzt: "Es hatte anfangs politische Gründe, dass ich da mitgeradelt bin - nach dem Motto: Die Straße gehört uns." Mittlerweile gehe es ihm eher "um das Soziale". Einen sozialen Aspekt hat eine Radtour mit Bernd-Michael Paschke auf jeden Fall. Er fährt und plauscht. Das ist übrigens nicht verboten, solange man den "Verkehr nicht behindert". Aber auch das ist: Auslegungssache.

© SZ vom 26.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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