Chrysler Neon:Das Glühwürmchen fliegt nach Deutschland

Design und Ausstattung können überzeugen - der Verkauf beginnt erst im September '94

(SZ vom 09.10.1993) Vorurteile lassen sich gerade in der Autobranche nur schwer ausräumen. Zum Beispiel dieses: Amerika baut große, stark motorisierte und gut ausgestattete Fahrzeuge, die allerdings zuviel verbrauchen und mit unterentwickelten Radaufhängungen gestraft sind. Chrysler selbst hat in der Vergangenheit dieses Vorurteil nach Kräften genährt und unterstützt. Gestrigkeiten wie der New Yorker, der Saratoga und mit Abstrichen auch der Le Baron waren schlimme Sänften, die auf mit Daunen gefüllten Stoßdämpfern über den Asphalt tänzelten und an der Tankstelle den Einfüllstutzen nicht voll bekamen. Lee Iaccoca hatte Chrysler mit billigen und anspruchslosen Modellen wie diesen aus der Rezession geführt, aber er wollte nicht wahrhaben, daß da draußen - Japan sei Dank! - mündige Kunden heranwuchsen, die sich nicht länger ein X für ein U vormachen ließen. Wäre da nicht Bob Lutz gewesen, wer weiß - Chrysler hätte einen zweiten Schwächeanfall womöglich nicht überlebt.

Lutz, der schlaue Fuchs, zog unter Iaccocas mißbilligenden Blicken einen Schlußstrich unter die Chrom-und- Pomp-Ära. Schon sein erster Geniestreich, der von Tom Gale (Design) und François Castaing (Technik) auf die Räder gestellte Chrysler Vision, entpuppte sich als Volltreffer, der sogar vor der europäischen Konkurrenz bestehen kann. Das zweite Produkt der Lutz'schen Modelloffensive ist der Neon.

Der auf der IAA präsentierte 4,35 Meter lange Mittelklassewagen überzeugt auf Anhieb durch seine gelungene Form und durch das überdurchschnittliche Raumangebot. Der großzügige Radstand (2,64 Meter) schafft vor allem im Fond viel Platz für lange Beine. Dafür liegt das Kofferraumvolumen nur auf dem Niveau eines Mazda MX-6, und auch die rahmenlosen Seitenscheiben sind nicht der Weisheit letzter Schluß, denn sie produzieren von 160 km/h an aufwärts nervige Windgeräusche. Ebenfalls verbesserungswürdig: die starken Spiegelungen in der Windschutzscheibe, die fehlenden Ablagemöglichkeiten, die nicht immer verwechslungssicheren Drucktasten.

Wenn der Neon im September '94 nach Deutschland kommt, will Chrysler nur die teure, aber komplett ausgestattete LX- Version anbieten. Zum Preis von rund 35 000 Mark gibt es dann zwei Airbags, ABS, Gurtstrammer, Flankenschutz, elektrische Fensterheber, Servolenkung, Zentralverriegelung, Aluminiumräder und möglicherweise eine Klimaanlage. Ledersitze kosten Aufpreis, und die Automatik gibt es vorerst weder für Geld noch für gute Worte, da Chrysler keine zeitgemäße Viergang-Schaltbox im Repertoire hat und das Dreigang-Räderwerk eine ziemliche Zumutung ist. Später wollen die Amerikaner die etwas preiswertere LE-Variante und ein Coupé nachschieben, mit dessen plumper Optik wir uns nicht so recht anfreunden können.

Das Verkaufsziel für das erste Jahr liegt bei moderaten 2000 Exemplaren. Von 1995 an plant Chrysler Deutschland, jährlich zwischen 5000 und 7000 Glühwürmchen zu importieren. Europaweit sind 15 000 Stück vorgesehen - mehr ist der noch im Aufbau begriffenen Händlerorganisation auch kaum zuzumuten.

Mit strafferer Abstimmung

Bodengruppe, Fahrwerk und Motor wurden speziell für den Neon neu entwickelt. Die Räder sind rundum an McPherson-Federbeinen einzeln aufgehängt. Die Europa-Modelle bekommen eine etwas straffere Abstimmung, geringfügig breitere Reifen und eine besonders zielgenau ausgelegte Lenkung. Wir haben den Neon im direkten Vergleich zum Peugeot 306, zum Opel Astra und zum VW Vento gefahren - und waren von den fahrdynamischen Qualitäten des Amerikaners angenehm überrascht. Der 1110 Kilogramm schwere Wagen liegt gut auf der Straße, lenkt spontan ein, ist auch auf welliger Fahrbahn richtungsstabil, kennt kaum Traktionsprobleme und überzeugt durch ein lebendiges, absolut problemloses Handling. Das Kurvenverhalten ist über weite Strecken absolut neutral, das Untersteuern bereitet selbst in Extremsituationen keine Schwierigkeiten und Lastwechselreaktionen sind dem Neon fremd.

Doch wo Licht ist, ist auch Schatten: Aufgrund der knappen Federwege und der kernigeren Europaabstimmung ist der Neon im Komfortkapitel nur dritter Sieger. Autobahn-Querfugen mag das Auto aus Detroit ebensowenig wie Kanaldeckel. Nur auf langen Bodenwellen ist der Neon so richtig in seinem Element. Während sich die stoßfreie, exakte und nicht zu leichtgängige Lenkung mit Ausnahme des etwas zu großen Wendekreises (10,8 Meter) keine Blößen gibt, hinterlassen die Bremsen einen zwiespältigen Eindruck. An der absoluten Verzögerung gibt es nichts auszusetzen, aber das Pedalgefühl schwankt zwischen teigig und hölzern, und die Dosierbarkeit läßt vor allem bei kalter Bremse zu wünschen übrig.

Der Motor ist ein neu konstruierter 2,0- Liter-16-Ventiler, der seine Nennleistung von 97 kW (132 PS) erst bei 6000/min abgibt. Die Fahrleistungs- und Verbrauchswerte (Null auf 100 km/h in 9,4 Sekunden, Höchstgeschwindigkeit 201 km/h, 4,7 Liter Super bleifrei auf 100 Kilometer bei konstant 90 km/h) liegen auf klassenüblichem Niveau - doch in puncto Fahrbarkeit, Laufkultur und Geräuschverhalten gibt es für die Chrysler- Ingenieure noch viel zu tun. Die von uns gefahrenen Vorserien-Fahrzeuge reagierten zögerlich bis nervös auf Gaspedalbewegungen, waren durchweg zu laut und produzierten in bestimmten Drehzahlbereichen unangenehme Vibrationen.

Dem Chrysler Neon fehlt drei Monate vor dem Verkaufsbeginn in den USA und ein Jahr vor dem Europa-Debüt noch der Feinschliff, aber das technische Konzept kann ebenso auf Anhieb überzeugen wie Design und Packaging. Keine Frage: Bob Lutz und seine Truppe sind auf dem richtigen Weg, Autos wie der Neon werden ihren Weg machen. Nur schade, daß der Wagen in Deutschland praktisch doppelt soviel kosten muß wie in den USA.

Von Georg Kacher

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