Canyon Grail im Test:Fahrrad mit Hirschgeweih

Lesezeit: 3 min

Der ungewöhnliche Lenker des Canyon Grail wird unter ambitionierten Radfahrern heiß diskutiert. (Foto: Canyon)

Das Gravel Bike hat einen Lenker, der fast zu schweben scheint und besser federn soll. Doch in Wahrheit ist es wie im Tierreich: Er dient vor allem der Show.

Von Sebastian Herrmann

Es wäre interessant, mal einen Hirsch zu befragen und das Tier um Auskunft darüber zu bitten, wie funktional eigentlich so ein Geweih ist. Geht natürlich nicht - aber die Wissenschaft hat trotzdem ein paar Antworten parat. Richtig praktisch ist das ausladende Gestänge auf dem Kopf eher nicht, schließlich kostet es enormen Energieaufwand, das Hörnergewirr wachsen zu lassen und durch die Gegend zu tragen. Im Kampf mit Rivalen ist es auch eher zweitrangig, ob das Geweih über zehn oder zwölf Enden verfügt. Stattdessen dient das Gestänge primär dazu, auf potenzielle Partnerinnen Eindruck zu machen: Seht her, liebe Hirschkühe, ich bin so stark, dass ich sogar ein monströs großes Geweih durch den dichten Wald tragen kann. Und was soll man sagen: Es klappt.

Anders als ein Hirsch lassen sich die Entwickler des Canyon Grail sehr wohl befragen - etwa dazu, welche Idee hinter dem extrem auffälligen und ungewöhnlichen Lenker steckt, mit dem die Ingenieure aus Koblenz ihr neues Gravelbike versehen haben. Bei der Entwicklung, so die erwartbare Antwort, habe nur die Funktionalität im Vordergrund gestanden. Mag sein, doch zunächst ist der doppelstöckige Lenker - wie ein Geweih - ein absoluter Hingucker, weil er absolut ungewöhnlich aussieht.

Das Canyon Grail ist ab einem Preis von 2199 Euro zu haben. Es kann aber je nach Ausstattung auch das Doppelte kosten. (Foto: Canyon)

Der Lenker besteht aus zwei Querholmen, von denen der untere der Konstruktion Halt gibt. Der Vorbau des Grail führt in einer Ebene aus dem Oberrohr des Rahmens heraus. Der glatte Übergang wirkt ästhetisch, jedoch lassen sich am Steuersatz keine Spacer anbringen, falls die Lenkerhöhe angepasst werden sollte. Der untere Holm des Canyon CP01 Cockpit CF, so die technische Bezeichnung des Cockpits, führt seitlich in die Bögen beziehungsweise Drops des Rennlenkers. Wer in Unterlenkerposition fährt, also tief gebeugt über den Lenker, der kann mit seinem Daumen um den Holm herumgreifen. Das muss nicht jeder mögen, verleiht aber das Gefühl zusätzlicher Kontrolle.

Kern des Cockpit-Konzepts ist jedoch der sogenannte Hoverbar: der zweite Holm, der vom Steuersatz entkoppelt ist. Mittig ist dieser Teil des Karbonlenkers geplättet, wie ein Rohr, das ein Schmied platt gedengelt hat. Das soll für Fahrkomfort sorgen, so die Idee, da dieser Holm Stöße abfedert beziehungsweise leicht flext, wie das gerne genannt wird. Auf Schotterwegen, für die Gravelbikes ja konzipiert sind, federe das obere Lenkerrohr Stöße wesentlich weg, so das Versprechen.

Besonders deutlich spürbar ist das jedoch nicht, anders als bei mechanischen Federelementen, die andere Hersteller etwa am Vorbau anbringen. Die Griffposition am Oberlenker fährt sich zwar sehr angenehm, aber besondere Flexibilität fällt nicht auf. Bei Fahrten in ruppigem Gelände befinden sich die Hände sowieso an den Bremsschaltgriffen, um über mehr Kontrolle zu verfügen, und für diese Lenkerregion versprechen die Ingenieure bei Canyon höchste Steifigkeit, da flext nichts. Wird es ruppig, sind die versprochenen Vorteile des Hooverbars also irrelevant, weil die Hände ohnehin anderswo greifen.

Der Lenker des Grail wirkt vor allem als Hingucker. An Ampeln steht der Fahrer im Zentrum der Aufmerksamkeit, und entgegenkommende Radler werfen einem konsternierte Blicke zu. "Bin dir vorhin hinterhergefahren", kommentiert etwa ein Unbekannter, nachdem man ein Foto des Grail bei Instagram hochgeladen hat.

Kurz nachdem Canyon das Rad vorgestellt hatte, überfluteten Spaßbildchen jenen Teil des Internets, in dem sich die Fahrradnerds herumtreiben - Lenkervarianten mit drei, vier, fünf Querstreben und so weiter. Das Cockpit des Grail ist eines jener Dinge, zu denen jeder eine Meinung hat: Es ist ein Entweder-oder-Produkt, entweder man findet es geil oder man findet es grotesk. Und egal welches Urteil der Betrachter fällt, das Lenkerkonzept wirkt wie ein prächtiges, ausladendes Geweih: Es erzeugt Aufmerksamkeit. Insofern handelt es sich um sehr erfolgreiches Marketing.

Der ungewöhnliche Doppellenker (Foto: Canyon)

Das Fahrrad zum Lenker verfügt über zwei Elemente, die deutlich spürbar Erschütterungen und Stöße wegfedern. Die 40 Millimeter breiten Schwalbe-G-One-Reifen dämpfen prima und rollen auch auf Asphalt sehr gut. Die Blattfedersattelstütze von Canyon - sie sieht aus, als sei sie der Länge nach gespalten - federt deutlich spürbar. Im Kontrast dazu wirkt der Lenker dann doch bocksteif.

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Das geländegängige Rennrad rollt als Gesamtpaket höchst geschmeidig über wackligen Untergrund, und auch auf der Straße lässt sich damit Tempo machen. Der Radstand des Grail ist verhältnismäßig lang: Es bietet 40 Millimeter mehr Platz als das Marathon-Rennrad Endurace aus der Canyon-Modellpalette. So ist Raum für dicke Reifen, und die Füße stoßen nicht an die Räder, wenn man zu stark einlenkt. Der Vorbau sieht von der Seite zwar sehr lang aus, aber der Schein trügt durch die Lenkerkonstruktion: Der Hoverbar schwebt, grob gesagt, fast mittig über dem Vorbau. Die Sitzposition ist eher sportlich und trotzdem angenehm. Das Grail rollt durch den langen Radstand schön stabil, der 440 Millimeter breite Lenker verleiht das Gefühl zusätzlicher Kontrolle.

Das Top-Modell CF SLX ist mit der elektrischen Shimano Ultegra Di2 ausgestattet, einer 50/34-Kompaktkurbel, einem 11/34-Zahnkranz sowie Ultegra-Scheibenbremsen. Mit dieser Ausstattung wiegt das Grail etwa 8,2 Kilogramm und kostet 4599 Euro. Für die günstige Variante des Rads verlangt Canyon 2199 Euro. Insgesamt ist das Grail ist ein sehr feines Gravelbike. Ob es jedoch das ausladende Lenker-Geweih braucht? Wohl nicht, aber es ist ein Hingucker - und wer Aufmerksamkeit genießt, fühlt sich damit wie ein radelnder Platzhirsch.

© SZ vom 16.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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