Bahnverkehr:Die Bahn baut drauflos - die Züge stehen im Stau

Gleisbauarbeiten in Planegg, 2016

Es wird gebaut im Schienennetz: Im oberbayerischen Planegg werden Schienen und Gleisbett gereinigt und erneuert.

(Foto: Stephan Rumpf)

Am Schienennetz wird in diesem Jahr so viel erneuert wie lange nicht. Das führt zu Sperrungen, Umleitungen, Verspätungen - und Verdruss auf allen Seiten.

Von Marco Völklein

Martin Legatzki-Reiche kann es nicht fassen. Einen Umweg von etwas mehr als 150 Kilometern haben die Planer der Netztochter der Deutschen Bahn (DB) für seinen Güterzug 95176 vorgesehen. "Das ist nicht akzeptabel", schimpft der 55-jährige Lokführer und greift zum Smartphone. Legatzki-Reiche informiert die Zentrale seines Eisenbahnunternehmens IGE in Hersbruck bei Nürnberg. Der Disponent soll bei der DB einen neuen Fahrplan bestellen. Andernfalls, so Legatzki-Reiche, sei die Tour mit den 24 leeren Kesselwagen an diesem Dienstag von Münchsmünster bei Ingolstadt nach Guben an der deutsch-polnischen Grenze nicht wie geplant an einem Tag zu schaffen. Und das bedeutet jede Menge Unbill für die IGE: Sie müsste einen zweiten Lokführer auftreiben, der irgendwo auf dem Weg nach Guben den Zug übernimmt. Oder ein Hotel für Legatzki-Reiche. Mal abgesehen davon, dass die Lok eh für weitere Fahrten eingeplant ist.

Der Grund für den Umweg: Auf der Bahnstrecke zwischen Nürnberg und Erlangen, irgendwo bei Vach, hat die Bahn eine Gleisbaustelle eingerichtet. Um genügend reguläre Züge durch das so entstandene Nadelöhr quetschen zu können, haben die Planer außerplanmäßige Fahrten wie die von Kesselwagenzug 95176 dort untersagt. Statt die direkte Route über Bamberg, Jena und Leipzig nach Guben zu nehmen, soll der Güterzug in einem großen Bogen über Würzburg, Fulda und Erfurt nach Leipzig fahren. "Das machen wir nicht mit", sagt Legatzki-Reiche. Der Disponent in Hersbruck wird sich nun also kümmern - und bei der Deutschen Bahn als Betreiberin der allermeisten Strecken eine andere Routenführung einfordern.

Umleitungen, Verspätungen, Streckensperrungen - all das gehört für Eisenbahner wie Legatzki-Reiche seit jeher zum Arbeitsalltag. In letzter Zeit aber häufen sich die Zwischenfälle, das berichten fast alle in der Branche. Der Grund: Die DB baut so viel wie seit Jahren nicht mehr. Der Schienenkonzern investiert in diesem Jahr die Rekordsumme von 7,5 Milliarden Euro in sein Netz. Bundesweit sind Baufirmen damit beschäftigt, Schienen zu erneuern, Schotter zu tauschen, Brücken zu sanieren, alte Weichen und Signale zu ersetzen.

Über viele Jahre hatte die DB ihr Netz auf Verschleiß gefahren; zwangsläufig, denn der Bund, eigentlich für den Erhalt des Schienennetzes verantwortlich, hatte den Streckenwärtern des Konzerns nicht genügend Geld zur Verfügung gestellt. Bahnmanager hatten immer wieder davor gewarnt und mehr Mittel aus dem Bundeshaushalt gefordert. Aber erst im Jahr 2014 machten Union und SPD dann mehr Geld locker, das in den Erhalt und die Sanierung des bestehenden Netzes fließt. "Wir reparieren Deutschland", hatte der Nürnberger SPD-Abgeordnete Martin Burkert, Vorsitzender des Verkehrsausschusses im Bundestag, damals der SZ gesagt.

Die Bahn plant die Baustellen so günstig wie möglich

Und er hatte die Bahnkunden auch gleich gewarnt: "Es wird einiges auf die Bürger zukommen." Die Reparaturarbeiten am lange vernachlässigten Bahnnetz würden "nicht ohne Belastungen geschehen können". Tatsächlich bringen die vielen Baustellen die Eisenbahnunternehmen und deren Kunden mittlerweile gehörig ins Schwitzen. Bahnfahrer müssen vielerorts auf Ersatzbusse umsteigen, Fern- und Güterzüge lange Umwege fahren.

Die DB plane ihre Baumaßnahmen "baustellenoptimiert", kritisiert der Fahrgastverband Pro Bahn. Also so günstig wie möglich. Die Auswirkungen auf die Kunden würden aber "nur marginal betrachtet". Auch Matthias Stoffregen, Geschäftsführer des Verbands Mofair, in dem sich die im Schienenpersonennahverkehr tätigen DB-Konkurrenten zusammengeschlossen haben, übt Kritik: "Wir freuen uns, dass es mehr Geld gibt", sagt er. "Aber wir müssen an einigen Stellen besser werden."

Mit "wir" meint Stoffregen vor allem: die Deutsche Bahn. Die plant ihre Baustellen traditionell mit viel Vorlauf, in der Regel drei bis fünf Jahre. So können auch die Eisenbahnverkehrsunternehmen rechtzeitig Fahr-, Dienst- und Umlaufpläne anpassen sowie Ersatzbusse ordern. Und um nicht alle Jahre wieder auf denselben wichtigen Strecken zu werkeln, bündelt der DB-Konzern seine Bautätigkeiten in Korridoren. Doch da wünscht sich die Konkurrenz mehr Einfluss. "Die Planung muss dialogorientierter werden", sagt Stoffregen. Die DB müsse bei den Betreibern nachfragen, was man Kunden zumuten könne - und was nicht.

Wochenlanger Schienenersatzverkehr

Die Länder wiederum, die die Regionalzüge und S-Bahnen bei der DB und deren Konkurrenten bestellen, sehen die Schuld beim Bund. Der schreibe der Bahn vor, möglichst wirtschaftlich zu bauen - und das gehe am besten mit Totalsperrungen. Nachteil: Die Fahrgäste müssten dann "teilweise wochenlang Schienenersatzverkehr nutzen, der meist deutlich längere Fahrzeiten mit sich bringt", sagt Ländervertreter Frank Zerban. "Dadurch verlieren wir langfristig Fahrgäste."

Zudem hat die Infrastrukturtochter DB Netz ihr Schienennetz bundesweit in sieben Bezirke aufgeteilt - und auch da laufe es oft nicht rund, ergänzt Peter Westenberger vom Güterbahnverband NEE (steht für Netzwerk Europäischer Bahnen). So komme es vor, dass ein DB-Netzbezirk wegen Bauarbeiten eine wichtige Strecke sperrt - und der benachbarte Netzbezirk auf einer eigentlich als Umleitung vorgesehenen Trasse ebenfalls Bauarbeiten ansetzt. Im Bahnnetz gebe es ohnehin zu wenige gut ausgebaute Umleitungsstrecken, ergänzt Karl-Peter Naumann von Pro Bahn.

1000 Baustellen

pro Tag plant die Netztochter der Deutschen Bahn in Spitzenzeiten im Herbst. Insgesamt investiert der Schienenkonzern in diesem Jahr nach eigenen Angaben die Rekordsumme von 7,5 Milliarden Euro in sein Netz, 200 Millionen Euro mehr als im Vorjahr. Etwa 5,2 Milliarden Euro stehen für die Erneuerung und Instandhaltung von 1650 Kilometern Gleisen, 1800 Weichen sowie 4600 Anlagen der Leit- und Sicherungstechnik zur Verfügung. Der Rest fließt in zahlreiche Neu- und Ausbaumaßnahmen.

Wegen der "Rastatt-Delle" stehen viele Güterzüge im Stau

Das zeigt sich derzeit auf der Rheintalbahn in Rastatt. Dort bohrt die DB zur Entlastung der bestehenden Strecke einen zusätzlichen Gleistunnel. Als die Ingenieure vor Kurzem die Bestandsstrecke unterqueren wollten, gab der Boden nach und die Gleise an der Oberfläche sackten ab. Seither geht nichts mehr auf der gerade für den Güterverkehr wichtigen Nord-Süd-Achse. Während die Fahrgäste im Regional- wie im Fernverkehr auf Ersatzbusse umsteigen konnten, standen viele Güterzüge im Stau. Weiträumige Umleitungsstrecken können nicht oder nur eingeschränkt genutzt werden, weil dort ebenfalls gebaut wird.

An einigen Strecken hat die DB nun reagiert und zumindest die Stellwerke rund um die Uhr besetzt, sodass die Züge dort auch nachts rollen können. Dennoch fehlen laut Westenberger Streckenkapazitäten. Er schätzt den durch die "Rastatt-Delle" verursachten Umsatzausfall allein für die Güterbahnen auf zwölf Millionen Euro pro Woche, manche Firma könnte die Sache vielleicht wirtschaftlich nicht überleben. Erst am 7. Oktober soll die Strecke wieder frei sein.

Wirtschaftliche Nachteile aus den vielen Baustellen befürchtet auch Mofair-Mann Stoffregen: Die Arbeiten würden "über den Baustellenfahrplan hinaus zu Verspätungen führen"; die Länder, die Regionalzüge und S-Bahnen bei den Betreibern bestellen, forderten dann Strafzahlungen, "Pönalen" genannt. Mehrere Bahnanbieter dringen daher nach Branchenangaben bereits auf Schadenersatz. Auch Pro Bahn kritisiert, dass die DB-Netztochter kaum in Regress genommen werden kann.

Ein neues Lagezentrum und eine mobile Eingreiftruppe sollen helfen

Vertreter der Branche treffen sich nun regelmäßig im Bundesverkehrsministerium am runden Tisch. Bis Jahresende sollen sie Verbesserungsmöglichkeiten ausloten. Die Bahn hat zudem im Juli ein "Lagezentrum Bau" mit 15 Mitarbeitern eingerichtet und eine mobile Eingreiftruppe geschaffen, die bei besonders brisanten Baumaßnahmen vor Ort helfen soll. DB-Infrastrukturvorstand Ronald Pofalla hofft, Baustellen so "besser durchzuplanen und noch besser abzustimmen auf den Fahrplan". Und die Auswirkungen für die Kunden zu mindern.

Klar sei aber auch, so ein Sprecher: "Am Ende kann es nur ein Kompromiss sein." Ganz ohne Beeinträchtigungen für die Nutzer, da sind sich Gleis- wie Straßenbauer einig, könne man nun mal nicht bauen. Zumal auch sonst im Bahnbetrieb so manches nicht rund läuft. Lokführer Legatzki-Reiche etwa hat es an diesem Dienstag mit Zug 95176 und reichlich Verspätung bis nach Treuchtlingen geschafft. Dort muss er knapp zwei Stunden Zwangspause einlegen. Wegen eines Personenunfalls ist die Weiterfahrt nach Nürnberg erst mal nicht möglich. Legatzki-Reiche ruft in der Dispo in Hersbruck an: "Bucht mir mal ein Hotel in Leipzig." Schon jetzt ist klar: Nach Guben schafft er es heute nicht mehr.

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