Autos, die das Herz bewegten (19): Volvo 1800 ES:Alter Schwede

Der Volvo 1800 ES lebt als Schneewittchen-Sarg bis heute in der Erinnerung fort.

Thomas Becker

Ein Auto, das Neid erzeugt. Weniger beim Nicht-Besitzer, als vielmehr beim Eigner. Wo auch immer der Wagen aufkreuzt, fliegen ihm die Sympathien zu. Wildfremden Menschen wächst dieses entrückte Lächeln ins Gesicht, Daumen werden gereckt, Kenner nicken voller Respekt oder fragen nach dem Baujahr. Einmal hat eine sehr hübsche Frau sogar Kusshändchen geworfen. Dem Auto. Nicht dem Besitzer.

Autos, die das Herz bewegten (19): Volvo 1800 ES: Wer im Glashaus fährt: Im Jahr 1971 stellte Volvo den 1800 ES vor; bis Juni 1973 wurden 8077 Einheiten gebaut.

Wer im Glashaus fährt: Im Jahr 1971 stellte Volvo den 1800 ES vor; bis Juni 1973 wurden 8077 Einheiten gebaut.

Wir mögen uns trotzdem, und das nun schon seit einigen Jahren. Kennengelernt haben wir uns vor der Kneipe. Es war dunkel, und dennoch leuchtete das himmelblaue Gefährt wie eine Supernova. Im Fenster: eins dieser Zu-verkaufen-Schilder, das in diesem Moment nicht wirklich interessant war. Wahre Liebe kennt keinen Preis. Und wer kann schon nach Hubraum, PS und ähnlichen Nichtigkeiten fahnden, wenn er diese Formen vor Augen hat? In diesem irgendwie zerstreuten Zustand der Verliebtheit trennten sich unsere Wege noch einmal - aber nur bis zum nächsten Morgen.

Er stand noch da, Gott sei Dank. Auch bei Licht besehen war der Himmelblaue eine Augenweide - was ja nicht bei jeder nächtlichen Bekanntschaft der Fall ist. Ein Volvo also, 1800 ES - nie gehört, aber egal. Wenig später stand der zum Verkauf gezwungene Besitzer vor mir - zur Probefahrt. Eine spannende Angelegenheit. Mein bisheriger Fuhrpark bestand aus bedauernswerten Blechkisten, bei denen es auf eine Delle mehr oder weniger nicht ankam.

Wie sich doch so ein schickes Gefährt auf den Fahrstil auswirkt! Wer in den Himmelblauen steigt, mutiert mit einem Schlag vom jungen Wilden zum älteren Herrn mit Hut. Bloß nirgends anecken! Dieses Schiff ist unendliche 440 Zentimeter lang. Es ging durchs Münchner Glockenbachviertel, wo viele Sträßchen gerade Platz für ein Gefährt bieten. Ein Gefühl, als würde man ein rohes Ei fahren. Wenig Sicht, da der Sitz nur marginal über dem Asphalt zu liegen scheint. Ein Lenkrad, so groß wie das eines Omnibusses und aus einer Zeit, als der Begriff Servolenkung noch nicht erfunden war.

Alter Schwede

Aus dem Tasten wird bald ein Cruisen, und auf der Autobahn ist der Jagdtrieb dann wieder durchgebrochen: "Wie schnell geht der eigentlich?" Offiziell treiben den 1800 ES 124 PS auf 185 Stundenkilometer, offiziell dauert es von null auf hundert rund zehn Sekunden. Doch schon bei Tempo 160 tut es einem in der Seele weh und man pendelt sich auf 120 ein, was einem bald als angemessene Höchstgeschwindigkeit erscheint. Man will ja nicht ständig tanken.

Wieder zurück im Glockenbach stellt sich nur noch kurz die Preisfrage, und wenig später sind der Himmelblaue und ich endlich ein Paar. Wie schön.

Das Leben ändert sich. Man wird Garagenbesitzer, Waschstraßennutzer, Ölstandkontrollierer - und weniger hektisch, plant bei größeren Exkursionen nicht mehr die Vollgas-Zeit ein, sondern auch mal eine Zugfahrt. Stets ist man auf dem neuesten Stand der Feinstaubdiskussion, bejubelt das H-Kennzeichen und fühlt sich vollkommen zurecht privilegiert.

Mit die schönsten Augenblicke sind die kurz vor dem Einsteigen: Wenn der Himmelblaue in seiner Pracht einfach so da steht und dieses offene, sehr breite Lachen seinen Kühlergrill umspielt. Da vergessen wir ihm sogar die anfänglichen Peinlichkeiten, als die Tankuhr uns ein ums andere Mal austrickste und der Sprit plötzlich mal wieder alle war, gerne auch mitten auf der Autobahn. Die Herren vom ADAC nahmen es stets mit einem Lächeln. Einer verzichtete sogar ernsthaft entrüstet aufs Trinkgeld.

Weniger nett: die demütigenden Besuche in Volvo- oder anderen Werkstätten, die meist mit dem Satz endeten: "Der einzige bei uns, der sich mit den alten Dingern noch auskennt, ist gerade in Urlaub." Deshalb ein Hoch auf die wenigen kundigen Werkstattbesitzer, die noch ohne Murren bei den Oldtimer-Ersatzteillagern in Hamburg oder Lebach anrufen, bestellen, einbauen, fertig!

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In unschöner Erinnerung: der erste Alpenpass. 1100 Kilo wiegt der Himmelblaue - bergauf sind es gefühlte 2100. Irgendetwas scheint defekt zu sein, so furchterregend langsam schleicht der Vierzylinder selbst kürzere Steigungen wie die zum Spitzingsee hinauf. Tipp: ausgiebig rechts blinken, um drängende Hintermänner zu besänftigen. Und nur ganz leise erzählen wir, dass sich der Himmelblaue auch prima für Ski-Ausflüge eignet - auch wenn er im Winter eigentlich überhaupt nicht auf die Straße gehört, schon klar.

Zwei Erwachsene und zwei nicht allzu große Kinder passen ohne Probleme in den offiziell als Viersitzer firmierenden Zweisitzer hinein: Klappe auf, Ski rein, Klappe zu. Sogar ein samstäglicher Ikea-Einkauf findet Platz in diesem Sportwagen-Kombi, dessen Bauart Nachahmer fand und heute auf den sehr fern klingenden Namen shooting-brake hören.

So ist er ja auch überhaupt erst auf die Welt gekommen, der Volvo 1800 ES: als Sportwagen mit zugleich praktischen Eigenschaften. Anfang der Siebziger Jahre sollte er den amerikanischen Markt mit seinen vielen Golfspielern bedienen: Klappe auf, Golfschläger rein, Klappe zu. Zehn Jahre zuvor war das Sportcoupé P1800 entstanden, das durch die englische Fernsehserie "The Saint" Bekanntheit erlangte. Hauptdarsteller: Detektiv Simon Termplar alias Roger Moore. Eigentlich hätte der spätere Bond einen Jaguar E-Type fahren sollen, doch die britischen Autobauer wollten nicht allzu viel Nachlass gewähren und so entschied man sich für die schwedische Variante, die so volvo-untypisch daher kam: frech, verspielt statt trutzig, solide, betulich.

Alter Schwede

Ende der Sechziger Jahre begann der Volvo-Chefdesigner Jan Wilsgaard dann mit der Weiterentwicklung des Coupés. Sechs Entwürfe legte er vor, am Ende fiel die Entscheidung zwischen der extrem futuristischen Version "Rocket" und dem "Beach Car" - zugunsten des Letzeren. Angedeutete Heckflügel, durchgehende Seitenscheiben, runde Scheinwerfer mit Chromrand, Einspritzanlage - und natürlich das Markenzeichen: die komplett gläserne Heckklappe, die dem 1800 ES bei seinem Erscheinen 1971 den Spitznamen Schneewittchensarg einbrachte. Ein zumindest ambivalenter Name für ein Auto. 25.000 Mark kostete das rollende Glashaus damals - ein stolzer Preis, der wohl auch dazu führte, dass am 27. Juni 1973 mit dem 8077. Exemplar der letzte Volvo 1800 ES produziert wurde. Eigentlich eine Schande.

Ein Auto, so viel mehr als ein nur ein Fortbewegungsmittel. Ein Auto, das es zwar auch in anderen Farben als Himmelblau gibt - jedoch versetzt wohl keine einzige auch nur annähernd in diesen Gemütszustand. Und schließlich ein Auto, das einen auch zur Einhaltung der Etiquette nötigt. Rutschte einem früher auf den Satz "Was für ein wunderschönes Auto!" gerne mal die reichlich schnöselige Bemerkung "Schon, oder?" raus, so geht man mit solch tief empfundenem Lob heute ganz anders um und sagt: "Vielen Dank. Sie haben ja so recht."

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