Autokonzern vor dem Umbruch:Wie Daimler seine Zukunft sichern will

Smart Fortwo Electric Drive auf der Los Angeles Auto Show 2016.

Noch bleiben reine Elektroautos der Tochtermarke Smart vorbehalten. Doch von 2020 an soll es auch Mercedes-Modelle mit Batterieantrieb geben.

(Foto: Reuters)

Derzeit geht es den Schwaben gut. Aber die Digital-Strategie von Mercedes wirft Fragen auf.

Analyse von Georg Kacher

Die Zeiten liegen noch nicht so weit zurück, in denen Daimler-Benz mit den eigenen Irrungen und Wirrungen und deren Folgen zu kämpfen hatte: das teure Chrysler-Abenteuer, die Mesalliance mit Mitsubishi, der Maybach-Flop, die im Elchtest zu Fall gebrachte A-Klasse. Doch die Führung hat aus den Fehlern gelernt und sich neu orientiert. Statt riskanter Übernahmen belässt man es bei Minderheitsbeteilungen wie im Fall von Aston Martin, dealt mit Freunden wie Renault/Nissan/Infiniti, pickt sich mit den Fuso-Nutzfahrzeugen die Rosine aus dem Mitsubishi-Vermächtnis heraus, wagt sogar punktuelle Kooperationen mit den Rivalen aus Ingolstadt und München.

Die multiplen Häutungen sind das Werk des Vorstands, der zur Abwechslung seine Strategen, Visionäre und Pragmatiker ihre Arbeit machen ließ. Ein gutes Beispiel dafür ist der Designchef Gorden Wagener. Nach Jahren der beliebig-biederen Formen erhielt der Deutsche mit dem amerikanisch klingenden Namen von den Chefs einen Freibrief für mutiger gestylte und deutlich emotionalere Fahrzeuge.

Aus seiner Hand stammt die unverschämt unvernünftige zweite A-Klasse-Generation, die dreimal so erfolgreich ist wie ihr Vorgänger. Er hat die barocke E-Klasse einer umfassenden Frischzellenkur unterzogen und die C-Klasse gleich mitrenoviert. Sein Team brachte die mit drei neuen Coupés noch breiter angelegte SUV-Offensive in Form und schneiderte gleichzeitig das Blechkleid der S-Klasse, die mit 100 000 Einheiten pro Jahr der mit Abstand wichtigste Renditebringer ist.

Die aktuell auffällig homogen gestaltete Modellpalette wird in Zukunft stilistisch wieder breiter aufgefächert - dafür sorgen schon die markant gezeichneten Elektroautos. Außerdem nimmt die Differenzierung zwischen Limousinen, Sportwagen und Crossover-Modellen zu, und auch innerhalb der Segmente ist mehr Eigenständigkeit gefragt.

Die Innenräume sollen in Vorbereitung auf die Lounge-Layouts autonomer Fahrzeuge großzügiger und flexibler werden, die inzwischen sehr komplexe Bedienung weicht einem deutlich intuitiveren Zugang, der Premium-Anspruch wird in immer kürzeren Intervallen mit neuen Inhalten gefüllt. Status ist nicht mehr eine Frage von Hubraum und Höchstgeschwindigkeit, sondern das Schaffen einer ganz besonderen automobilen Erlebniswelt.

Mercedes hat dieser Tage neue Vier- und Sechszylindermotoren vorgestellt - eigentlich konstruiert für eine kleine Ewigkeit. Doch deren Halbwertzeit könnte sich nun dramatisch verkürzen. Nein, das E-Auto kommt auch bei Mercedes weder über Nacht noch in großen Stückzahlen, aber der Paradigmenwechsel ist eingeleitet und damit auch die schwindende Bedeutung des Verbrenners.

Die E-Mobilität kommt in drei Schritten

Noch bauen die Schwaben neue Aggregatewerke und Fertigungsstraßen, doch in der rasch wachsenden digitalen Welt spielen mechanische Komponenten nicht mehr die Hauptrolle. Stattdessen wollen die Daimler-Strategen drei neue Akzente setzen. Den Anfang macht der zeitnah serienmäßige 48-Volt-Mild-Hybrid als potenzieller Ersatz für den Diesel, im zweiten Schritt kommt der Plug-in-Hybrid (PHEV), Ende 2020 startet dann der erste maßgeschneiderte Elektro-Benz.

Die neue Strategie fordert natürlich auch Opfer. Auf der schwarzen Liste jener Modelle, die es kaum in die nächste Runde schaffen werden, stehen unter anderem die zweitürigen S-Klasse-Derivate, die dreitürige A-Klasse, CLS Shooting Brake, SLC Roadster und das fünftürige Sportcoupé auf Basis C-Klasse-Nachfolger. Gleichzeitig wird das Angebot erweitert, und zwar um A-Klasse-Limousine, GLB Crossover im G-Klasse-Look, AMG GT4 als selbsternannten Panamera-Rivalen, X-Klasse Pick-up und um ein fünftüriges S-Klasse-Coupé, das nach dem Rückzug von Audi (A9) und BMW (9er) praktisch ohne direkten Gegner wäre.

Formel-1-Renner für die Straße

Der mit Abstand extremste Neuzugang ist der AMG X1, ein Formel-1-Renner für die Straße, der zur 50-Jahr-Feier auf der nächsten IAA debütiert. Zu den kolportierten Eckdaten der 25-Stück-Kleinstserie mit Carbon-Karosserie gehören ein 1,6-Liter-V6 mit 600 PS, drei in Summe ebenfalls 600 PS starke E-Motoren und ein Preis von drei bis vier Millionen Euro.

Während der neue, mit Renault gezeugte Smart Forfour den Kundengeschmack nur zu streifen scheint, sonnt sich die Performance-Tochter AMG in der Sonne des Erfolgs. Spät, aber doch hat man in Stuttgart erkannt, was die Außenstelle Affalterbach unter der Leitung von Tobias Moers zu leisten vermag. Dabei geht es längst nicht mehr um Spoiler und Sportsitze, sondern um die fahrdynamische Gesamtfahrzeug-Kompetenz in Form neuer Achsen und Antriebe.

Das elektrische Basismodell soll 65 000 Euro kosten

In den Jahren 2020 bis 2022 will uns Mercedes vier reinrassige E-Autos bescheren. Nach EVA1 (Electric Vehicle Architecture) in Form des GLC-Derivats vom Pariser Salon steht EVA2 für eine komplett neue, in allen Dimensionen flexible Alu-Matrix. Die EQ-Familie besteht aus vier Mitgliedern. Die beiden SUV sollen sich in den Lücken zwischen GLC und GLE beziehungsweise GLE und GLS breitmachen, die Limousinen splitten C- und E-Klasse beziehungsweise E- und S-Klasse. Das Batteriepaket mit einer Kapazität von bis zu 105 Kilowattstunden verbirgt sich platzsparend im Bauch des Baukastens. Das Basismodell mit 400 Kilometer Reichweite, 170 kW starkem Heckmotor und Hinterradantrieb soll etwa 65 000 Euro kosten.

Mit EVA2 haben die Vordenker im Entwicklungszentrum Sindelfingen die Konkurrenz zunächst einmal in Zugzwang gebracht. Eine spezielle Architektur für Elektroautos ohne Querverbindung zur Serie - Patentlösung oder Geldvernichtung? BMW entschied sich für den günstigeren Weg und bindet den i20/iNext zumindest lose an 3er und 5er. Audi zögert noch, liebäugelt aber nach wie vor mit der vielseitig einsetzbaren Multi-Traktions-Plattform.

Mercedes will die Autodaten behalten und schützen

Selbst Mercedes hinterfragt inzwischen die Nachhaltigkeit des EVA2-Konzepts. Denn nicht nur der finanzielle Aufwand ist gewaltig, auch am raschen Übergang zum reinen Elektroantrieb gibt es mittlerweile Zweifel. O-Ton Untertürkheim: "Wir müssen entscheiden, welche Autos wir wirklich brauchen, und welche Antriebskonzepte wann verfügbar sein sollen. Ist der Plug-in-Hybrid wirklich nur eine Zwischenlösung oder entsteht daraus im nächsten Schritt möglicherweise eine nachhaltige Alternative mit kleinem Range Extender, der sich erst dann zuschaltet, wenn 100 Kilometer E-Reichweite nicht genügen - was im Schnitt gerade mal bei 14 Prozent aller Fahrten der Fall ist?"

Unklar ist auch die Antwort auf die Frage, ob die Autohersteller insgesamt verhindern können, dass Apple und vor allem Google nach dem Zugang zum Cockpit auch die Kontrolle darüber erobern. Eigentlich sind nur General Motors und Toyota stark genug, um einen eigenen Anti-Google-Standard zu entwickeln, doch im deutschen Premium-Verbund nach dem Vorbild des Kartendienstes Here könnte es auch Daimler gemeinsam mit Audi und BMW gelingen, dem mobilen Nutzer nahtlosen Zugang zur Onlinewelt zu verschaffen und gleichzeitig seine Daten zu schützen.

Erst verwöhnen, dann überzeugen

Mit der Hoheit über diese Schnittstelle steht und fällt das Ergebnis, denn auch der Oberklasse-Primus muss immer mehr Teile zukaufen: Sensoren, Kameras, Elektronik, Software, Bildschirme, Batterien, E-Motoren. Das untergräbt trotz unverändert hochwertiger Produktsubstanz die Wertschöpfung.

Ein weiteres Problem ist die zunehmende Verstädterung und das entsprechend veränderte Nutzerprofil. Mit Car2go (Smart) hat Daimler hier zwar einen Anfang gemacht, aber die Premiummarke Mercedes tut sich naturgemäß schwer im urbanen Umfeld, wo Nutzen über Besitzen geht und es mit einfachen Digital-Diensten wie Parken und Laden in Zukunft nicht getan ist. Was fehlt, ist ein globales High-End-Abo für das zum aktuellen Bedarf passende Auto, sofort und zum Fixpreis. Mit Effizienz und Emotion soll der betuchte Kunde zuerst verwöhnt und dann überzeugt werden. Falls das schiefgeht, machen freie Serviceanbieter wie Uber das Geschäft - womöglich mit einer Mercedesflotte. In der alten Autowelt der Spengler und Maschinenbauer gelten plötzlich ganz neue Gesetze.

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