Abgasskandal:Die Autofahrer haben sich zu gerne belügen lassen

Abgasskandal: "Vorsprung durch Technik" ist der Slogan der Automarke Audi - Seit dem Dieselskandal hat der Satz eine neue Bedeutung bekommen.

"Vorsprung durch Technik" ist der Slogan der Automarke Audi - Seit dem Dieselskandal hat der Satz eine neue Bedeutung bekommen.

(Foto: AFP)

Die PS verdoppeln und dabei die Schadstoffe senken - hat das wirklich jemand geglaubt? Die Hingabe der Deutschen zum Auto hat sie blind und den Abgasskandal erst möglich gemacht.

Kommentar von Jan Heidtmann

George zweifelte schon am Wert der Autos, lange bevor sie Fahrt aufgenommen hatten: "Mit all ihrem Drang nach vorne könnten sie ein Rückschritt in der Zivilisation sein", lässt der US-Schriftsteller Booth Tarkington seinen Protagonisten in "The Magnificent Ambersons" sagen. "Vermutlich werden sie weder die Welt verschönern noch die Seele der Menschen." Tarkingtons Buch wurde 1918 veröffentlicht, und nun, fast 100 Jahre später, scheint Georges Prophezeiung wahr zu werden. Was Volkswagen, Audi, Porsche und auch Mercedes derzeit aufführen, sieht jedenfalls mehr nach einem Rück- als nach Fortschritt aus. Und der Seele der Menschen, besonders der Deutschen, tut das Auto auch nicht mehr gut.

Zwar ist die Liebe der Deutschen zu ihrem Gefährt ungebrochen. Es ist ihr heiligstes Ding, ein Kulturgut, wie es deutscher kaum sein könnte. Da sitzt jede Schraube, da ist keine Fuge zu breit; während vorne der Motor schnurrt und brüllt, arbeitet drinnen das Sound-System. Krankheiten wie der Rostfraß und streikende Anlasser sind lange auskuriert, heute ist das Auto, besonders das deutsche, ein Stück Hochtechnologie für jedermann. Für viele die schönste Art, den eigenen Willen zu Kraft werden zu lassen.

Doch die Bewunderung macht blind. 43 Millionen Pkw gibt es in Deutschland - und ein großer Teil ihrer Besitzer ist mitverantwortlich für den Dieselskandal, das Autokartell und den Größenwahn einer ganzen Branche. Die Hingabe zum Auto hat eine Stimmung geschaffen, die dies erst möglich macht. Natürlich, Betrug bleibt Betrug. Wenn die Autohersteller wissentlich Diesel-Pkw verkaufen, deren Schadstoffwerte massiv geschönt sind, dann belügen sie den Kunden. Aber es muss dabei auch immer jemanden geben, der sich belügen lässt. Die PS-Zahl verdoppeln und gleichzeitig die Schadstoffe senken? Hat das wirklich jemand geglaubt? Oder wollte man es nicht auch gerne glauben?

"Deutschland hat das Auto erfunden, perfektioniert und sich ökonomisch wie emotional davon abhängig gemacht", schreibt der Mobilitätsforscher Stephan Rammler in seinem Buch "Volk ohne Wagen". Wen das nicht überzeugt, der muss nur an einem Samstagmittag zur Autowaschanlage fahren. Mit welcher Inbrunst dort der Wagen für den Waschgang vorbereitet wird, mit wie viel Akkuratesse anschließend die Felgen gewienert und das Lenkrad poliert werden, das ist nicht nur rational zu erklären.

Der Ingenieur, ein Goethe der Technik

Dabei wird die Hingabe dem Geschöpf genauso zuteil wie dem Schöpfer. Neben dem Dichter und Denker gehört der Ingenieur zu den Säulenheiligen der Deutschen. Ein Goethe der Technik. Im Inland wie im Ausland stand er immer für Präzision und Verlässlichkeit, Jahrzehnte hat er möglich gemacht, wovon Amerikaner, Japaner und alle anderen oft nur träumen durften.

Wie tief sich dieses Bewusstsein eingegraben hat, illustriert ein Werbespot von VW. Techniker in weißen Kitteln schrauben da an ihren Fahrzeugen, plötzlich wachsen ihnen große, weiße Schwingen, die sanft flattern. "That's the power of German Engineering", lautet der Slogan - wann immer ein Auto aus ihrer Produktion mehr als 100 000 Meilen erreicht hat, werden die Mechaniker zu Engeln.

Heute scheint der Geist der Autoindustrie verloren zu sein

Der Ingenieur als Gesandter Gottes, die Ursprünge dieser Anmaßung sind Mitte des 19. Jahrhunderts zu finden. In Stuttgart wird gerade das Polytechnikum gegründet, hier versammeln sich all die Studenten, die mit der humanistisch geprägten Landesuniversität in Tübingen nichts zu tun haben wollen. Die Stimmung ist euphorisch, Mechanisierung und Industrialisierung beginnen, wer in Stuttgart studiert, zählt sich zur Avantgarde. Und wird auch dazu gezählt. Karl Friedrich Benz, Gottlieb Daimler, Wilhelm Maybach und auch Robert Bosch machten in diesem Umfeld ihre Erfindungen.

Heute scheint dieser Geist in der Autoindustrie verloren zu sein. Das Selbstbewusstsein ist zwar geblieben, geschwunden aber ist die offene Neugier. "Das Beste oder nichts", so wirbt Mercedes jetzt. Es klingt wie der Endpunkt einer Entwicklung, erstarrt.

Das Auto ist gesellschaftlich ein dummes Ding

Die Konzerne wirken dabei so hermetisch wie die Produkte, die sie herstellen. War es vor 20 Jahren mit etwas Geschick noch gut möglich, einen Anlasser selbst auszutauschen, sind die Autos von heute nahezu vollständig versiegelte Systeme. Der Ingenieur hat endgültig alle Macht übernommen. Doch während er am Innern seines Gefährts tüftelte, veränderte sich das Außen radikal. Das Ding, das er nun baut, ist technisch vielleicht brillant und im Autokosmos die Krone der Schöpfung. Gesellschaftlich ist es ein dummes Ding.

Es gibt Menschen, die auf ein Auto angewiesen sind. Pendler, Pflegekräfte, Ladenbesitzer. Das erklärt aber nicht, warum die Deutschen so viele Autos kaufen wie selten zuvor. Innerhalb des Mittleren Rings von München, in den Innenstadtbezirken von Berlin, in einem guten Radius rund um die Alster in Hamburg, da ist ein Auto oft nur ein überflüssiger und zerstörerischer Luxus. Trotzdem steigen die PS-Zahlen genauso stetig wie die Ausmaße der Gefährte. Ja, das Car-Sharing nimmt zu, und vor allem jungen Männern ist das eigene Auto inzwischen nicht mehr so wichtig. Doch da viele Menschen bis ins hohe Alter fahren, wird der Verkehr erst einmal nicht weniger.

Ein "Fukushima-Moment"? Eher nicht

Ließe man den Dingen einfach ihren Lauf, dann wäre der Abschied vom Auto als kraft- und technikstrotzende Identifikationsmaschine ein Prozess über mehrere Generationen. Nach dem unseligen Dieselgipfel warnte Grünen-Chef Cem Özdemir die Autoindustrie vor einem "Fukushima-Moment". Doch der Vergleich trifft nicht zu: Denn wer liebt schon ein Stromunternehmen? Am ehesten lässt sich der Ablöseprozess mit dem Ausstieg aus der Kohle vergleichen. Auch hier muss eine in Jahrzehnten gewachsene Kultur, die des Bergbaus, beendet werden.

Aber das Klima wartet nicht, bis die Deutschen ihre wahnhafte Beziehung zum Auto gelöst haben. Dafür bräuchte es Politiker, die klüger agieren als viele ihrer Wähler und auch mutiger. Danach sieht es nur gerade nicht aus.

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