Neue Wege in der Aerodynamik:Ein negativer Pfeil

Neue Wege in der Aerodynamik: Über die ungewöhnlichen Tragflächen strömt die Luft besonders gleichmäßig. Das reduziert den Luftwiderstand des Jets. (Foto: DLR)

Über die ungewöhnlichen Tragflächen strömt die Luft besonders gleichmäßig. Das reduziert den Luftwiderstand des Jets. (Foto: DLR)

Es sieht ungewohnt aus, könnte aber Treibstoff einsparen: Deutsche Ingenieure entwickeln ein Passagierflugzeug, dessen Flügel nach vorne gerichtet sind. Bis ein Prototyp allerdings wirklich abheben kann, müssen noch einige Probleme gelöst werden.

Von Alexander Stirn

Irgendwas stimmt nicht mit diesem Flugzeug. Der schlanke, rot-weiß-blau lackierte Rumpf ist es nicht. Die überdimensionalen Triebwerke im Heck sind es auch nicht, die sind allenfalls gewöhnungsbedürftig. Aber die Tragflächen - sie wirken, als habe ein Kind beim Griff in seinen Baukasten die Flügel verkehrt herum aufgesteckt. Lustig, aber irgendwie falsch. Doch es war kein Kind, das dieses seltsame Flugzeug entworfen hat. Es waren Ingenieure des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR). Lamair heißt ihr Projekt, eine Abkürzung für "Laminar Aircraft Research" - laminare Flugzeugforschung. Mit seinen nach vorne gerichteten Flügeln soll der neuartige Mittelstreckenjet die Luft möglichst gleichmäßig und ohne Verwirbelungen über seine Tragflächen streichen lassen. Das verspricht einen geringeren Luftwiderstand und somit einen niedrigeren Treibstoffverbrauch.

Noch ist das Flugzeug allerdings nur ein Modell. Seine Entwickler haben es - nach Abschluss einer dreijährigen Forschungsphase - im September auf der Berliner Luftfahrtmesse ILA vorgestellt. Jetzt soll die Detailarbeit beginnen. Bis Lamair wirklich abheben kann, müssen allerdings noch einige Probleme gelöst werden.

"Im Prinzip fliegt ein Flugzeug durch stehende Luft, nur um den Flieger herum ist sie in Bewegung", sagt Lamair-Projektleiter Arne Seitz vom DLR-Institut für Aerodynamik und Strömungstechnik in Braunschweig. Das bleibt nicht ohne Folgen - insbesondere nicht, wenn ein Passagierflugzeug mit etwa 800 Kilometern pro Stunde durch ruhende Luftmassen pflügt.

Zwischen der Flugzeughaut und der Umgebung entsteht eine nur wenige Millimeter dicke Grenzschicht, innerhalb der die Geschwindigkeit von 800 Stundenkilometer auf beinahe null zurückgeht. An der Vorderkante eines Flügels ist diese Schicht noch gleichförmig, nach wenigen Zentimetern wird sie allerdings turbulent. Wirbel entstehen, die Energie fressen und dadurch bremsen. Die Triebwerke müssen zusätzliche Arbeit leisten.

Ein wichtiger Faktor für das Auftreten dieser Verwirbelungen ist der sogenannte Pfeilwinkel der Tragflächen, der Instabilitäten im Luftfluss begünstigt. Er verläuft zwischen der Flügelvorderkante und einer imaginären Linie, die senkrecht vom Rumpf nach außen ragt.

Bei modernen Passagierjets ist ein leichter Pfeilwinkel unabdingbar, um den Widerstand der Luft zu reduzieren und Geschwindigkeiten von 800 Kilometern pro Stunde wirtschaftlich überhaupt möglich zu machen. Allerdings sind heutige Tragflächen nicht nur pfeilförmig, sie werden nach außen auch zunehmend schmaler. Dadurch ergibt sich zwangsläufig ein sehr großer Pfeilwinkel.

"Es behauptet allerdings niemand, dass Flugzeuge stets rückwärts gepfeilt sein müssen, für den Auftrieb spielt das zunächst einmal keine Rolle", sagt Martin Kruse, DLR-Ingenieur in Braunschweig. Wenn es darum geht, die turbulente Strömung zu verhindern, ist die Richtung dagegen entscheidend: Bei einem umgedrehten, nach vorne gerichteten Flügel reduziert die spitz zulaufende Form der Tragflächen automatisch den Pfeilwinkel - ein rein geometrischer Effekt. Die Luftmassen verwirbeln im hinteren Bereich des Flügels. Bis dahin strömen sie gleichmäßig, Aerodynamiker nennen das "laminar".

Erste Versuche schon vor 60 Jahren

Die Idee ist nicht unbedingt neu. Bereits während des Zweiten Weltkriegs entwickelten deutsche, russische und amerikanische Ingenieure Flugzeuge mit vorwärts gepfeilten Tragflächen. In Deutschland konstruierte beispielsweise der Dessauer Ingenieur Hans Wocke die Junkers JU 287, einen schweren Langstreckenbomber, dessen Prototyp im August 1944 erstmals abhob. In Serie ging die JU 287 allerdings nie.

Deutlich erfolgreicher war der ebenfalls von Wocke entwickelte Hansa Jet - ein zehnsitziges Geschäftsflugzeug, das zwischen 1964 und 1973 gebaut wurde. 47 Maschinen entstanden damals, neun stürzten im Laufe der Zeit ab. Seitdem sind vorwärts gepfeilte Tragflächen nur noch bei Segelfliegern und bei experimentellen Kampfjets wie der amerikanischen X-29 und der russischen Su-47 Berkut zum Einsatz gekommen. An einer Verkehrsmaschine mit mehr als 150 Sitzplätzen hat sich bislang noch kein Ingenieur versucht.

Das Vorhaben ist nicht ohne Risiko. Bei jeder Tragfläche führt der Auftrieb unweigerlich dazu, dass sich die Flügelspitzen nach oben biegen. Aufgrund ihrer Form verdrehen sich konventionelle Flügel dabei allerdings so, dass der Anstellwinkel an den Spitzen abnimmt und die Auftriebskraft geringer ausfällt. Die beiden Effekte kompensieren sich, die Tragfläche entlastet sich selbst.

Bei einem vorwärts gepfeilten Flügel sieht das anders aus. Der Anstellwinkel geht beim Durchbiegen nicht etwa zurück, er vergrößert sich sogar. Der Auftrieb an den Spitzen nimmt dadurch zu, die Tragfläche biegt sich noch mehr durch - bis hin zu einem möglichen strukturellen Versagen. Abhilfe kann eine deutlich stabilere Konstruktion schaffen. Sie würde allerdings das Gewicht und somit den Kerosinverbrauch übermäßig steigern. Genau das, was der seltsame geformte Flügel eigentlich verhindern sollte.

Erste Tests im Windkanal

"Man kann das Problem aber auch clever lösen", sagt Martin Kruse. Möglich machen das Materialien, die dem Verdrehen aktiv entgegenwirken - beispielsweise Kohlefaserbauteile, die ohnehin immer mehr Bedeutung im Flugzeugbau gewinnen. Der Winkel ihrer Fasern lässt sich so variieren, dass sich die Tragflächen beim Verbiegen von allein in die gewünschte Richtung drehen. Verglichen mit einer Kohlefaserkonstruktion ohne maßgeschneiderte Effekte nimmt das Gewicht der Flügel zwar leicht zu, "insgesamt überwiegen aber die Vorteile", sagt Kruse.

Erste Tests im Windkanal scheinen das zu bestätigen. Mithilfe eines zwei Meter großen Modells konnten die Ingenieure dort Erfahrungen mit den Flugeigenschaften ihres Entwurfs sammeln. Auch numerische Simulationen liefern offenbar ermunternde Werte. Auf fast der Hälfte der Flügeloberfläche kommt demnach eine laminare Strömung zustande. Verglichen mit einem aktuellen Mittelstreckenflugzeug reduziert Lamair den Luftwiderstand somit um 18 Prozent, der Treibstoffverbrauch während des Reiseflugs geht um neun Prozent zurück. Das klappt allerdings nur in großen Höhen, wo die Luft dünner und der Fluss gleichmäßiger ist. Beim Steigflug oder bei der Landung zeigen sich hingegen kaum Unterschiede.

Eine Mücke kann den Unterschied machen

Beim Start kommt sogar ein weiteres Problem hinzu. Tote Mücken können sich - wie auf der Windschutzscheibe eines Autos - an der Vorderkante der Tragflächen festsetzen. Schon eine Fliege reicht, um den laminaren Luftfluss in der Flügelregion dahinter zunichte zu machen. Die Ingenieure experimentieren daher mit Beschichtungen und einem System, das bereits in Segelfliegern zum Einsatz kommt: dem "Mückenputzi". Dabei rauscht ein scharfer Draht über die Flügelnase und entfernt alle festgeklebten Insektenreste.

Einfacher wird es mit einer neuen Technologie, die ebenfalls im Rahmen des Lamair-Projekts erforscht wird. Durch winzige Löcher in den Tragflächen wollen die Ingenieure einen Teil der turbulenten Strömung absaugen. Das verspricht nicht nur einen laminaren Fluss auf größeren Flächen und bei höheren Geschwindigkeiten, es ist auch weitgehend unempfindlich gegenüber Verschmutzungen.

Allerdings ist der fliegende Sauger enorm aufwendig. Vier Millionen Löcher pro Quadratmeter verlangen die Aerodynamiker, ein jedes darf maximal 50 Mikrometer groß sein - also dünner als der Durchmesser eines menschlichen Haares. Beim Seitenleitwerk eines Airbus A320 müssten sich diese Öffnungen beispielsweise auf eine Fläche von 7,5 Quadratmetern verteilen. "Wir sprechen also von etwa 30 Millionen Löcher, die in einer überschaubaren Zeit gefertigt werden müssen", sagt Matthias Horn vom DLR-Institut für Bauweisen und Konstruktionsforschung in Stuttgart. Bei einem Loch pro Sekunde würde das fast ein Jahr dauern.

Die Stuttgarter Forscher experimentieren daher mit Laser- und Elektronenstrahlen, die zehn bis 100 Löcher pro Sekunde schaffen sollen. Eine andere Idee setzt auf ein dünnes, nur 40 Mikrometer starkes Blech, in das die Löcher geätzt werden können. Ein dahinter liegendes Metallgewebe soll der hauchdünnen Struktur die notwendige Stabilität verleihen. "Im Endeffekt erhalten wir dadurch eine Außenhaut, die stabil ist, aber deutlich einfacher zu perforieren", sagt Matthias Horn.

Das saugende Seitenleitwerk könnte den Widerstand eines Flugzeuges um gut 1,7 Prozent reduzieren. Werden auch noch Höhenleitwerk sowie Tragflächen durchlöchert und an eine Pumpe angeschlossen, fällt dieser Wert deutlich höher aus. Im Computer simulieren lassen sich die Auswirkungen der vielen Millionen Löcher allerdings nicht - selbst die besten Rechner sind dafür zu langsam. Auch ein verkleinertes Modell für den Windkanal hat kaum Aussagekraft.

In der nächsten Phase des Lamair-Projekts, die Anfang 2013 starten soll, wollen die Ingenieure daher ein komplettes Seitenleitwerk im Windkanal testen. Später sind sogar Versuche mit dem DLR-Forschungsflugzeug Atra geplant - einer echten A320. Lediglich auf Flugtests mit den vorwärts gepfeilten Tragflächen müssen die Ingenieure vorerst noch verzichten. So einfach wie in einem Kinderbaukasten lassen sich an einem Forschungsflugzeug die Flügel dann doch nicht umdrehen.

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