Faszination MotoGP:Wenn die Illusion Gas gibt

Auch ungestellte Fragen müssen manchmal beantwortet werden. Zum Beispiel diese: Warum MotoGP und Formel 1 ein Stück Freiheit sind.

Jochen Wagner

"Ich bin Kässiii Schdouneeer", jubelt Raphael - "und ich bin Wallendinoooo Rossiii", schreit Janus und umkurvt seinen Kumpel mit seinem Laufrad. Sie spielen das Rennen von Assen nach, wo zuletzt beim HollandMotoGP vier Runden vor Schluss Altmeister Valentino Rossi innen Casey Stoner siegreich überholte. Doch nicht Überchampion Rossi auf Yamaha, sondern Newcomer Casey Stoner auf Ducati führt das Klassement mit 185 zu 164 Punkten an. Ducati, mit 40.000 Bikes per anno der David, flippt aus. Und die Goliaths, Honda mit neun Millionen Zweirädern im Jahr, Kawasaki, Suzuki und Yamaha rätseln.

Casey Stoner

Komplett extraklassig: Jungspund und Hasardeur Casey Stoner führt in der MotoGP.

(Foto: Foto: ddp)

Vor allem der Jungspund Stoner ist der Glücksgriff der aktuellen Saison. Landete er früher, als Rolling Stoner gehänselt, gerne und oft im Kiesbett, fährt er heuer "wie der Teufel", muss selbst Meister Rossi anerkennen. Und dies beileibe nicht nur im Trockenen oder auf Kursen voller Geraden - denn bremst sich der in der Szene "The Doctor" oder "Vale" genannte Valentino heran und schlupft bekannt unübertrefflich innen durch, so wird er bei Topspeed gleich wieder eingefangen.

Beim Regenmatch in Donington, wo er 2001 auf der 125er Movistar-Honda debütierte, fuhr Stoner komplett extraklassig. In Assen nun konnte Rossi punkten. Wie Rossi war auch Stoner schon als Dreijähriger vom Minibike kaum herunterzukriegen. Mit sechs Jahren ein Routinier auf dem Kinderkrad, hatte er mit 14 bereits 41 australische Crossmeistertitel eingeheimst. Von 2005 an fightete der verwegene Hasardeur in der 250-Kubik-WM und sammelte viele Stürze. 2006 dann ohne Hauptsponsor erstmals in der MotoGP waren der junge Mann und Ducati eine einzige Win-win-Paarung: Fünf Mal schon wheelte der 21-jährige Bub vor Rossi & Co. über die Ziellinie.

Zur Halbzeit der Saison 2007 nun gastiert der Tross an diesem Wochenende zum deutschen Grand Prix auf dem Sachsenring. Vor erwartungsgemäß voller Kulisse liefert die Königsklasse den Ultrakick an PS-Furor. Den Kassandrarufen zum CO2-Klimagau zum Trotz bläst die Meute in diesem Jahr mit nur mehr 800 Kubik statt vormals 990 auf insgesamt 18 Läufen zum Halali.

Weniger PS, aber schnellere Rundenzeiten

Schon haben die hubraumschwächeren Geschosse mit weniger Kampfgewicht und besseren Pneus den Schwund von 250 auf 220 PS kompensiert. Später bremsen, schneller kurven, kontrollierter beschleunigen - das alles führt im Ergebnis trotz geringerer Höchstgeschwindigkeiten zu schnelleren Rundenzeiten.

Wenn die Illusion Gas gibt

Was aber lässt uns wheelen, stoppen, driften, driven, nach Vmax gieren und an diesem Wochenende zum Sachsenring pilgern? Eine kalte Lötstelle in der Birne oder verrückte Gene? Rasen ist eine Männerdomäne seit dem antiken Theater Agon, wo freilich den Verlierern auf dem Streitwagen mit nur einem PS noch der Tod drohte. Aber auch nach der erst (oder schon) 110 Jahre alten Geschichte des Motors süchtelt der Leib nach seinem liebsten Bewegungsverstärker. Bevor die Seele auf dem Sofa ins Koma fällt, läuft sie lieber im Endloskreisel kontrolliert Amok.

Vielleicht ist der Rennzirkus von MotoGP bis Formel 1 auch sozial eine notwendige Gegenwelt zum Alltag. Mal richtig auftrumpfen, Außergewöhnliches können, jemand Besonderes sein, das ist ja ein zutiefst menschliches Verlangen. Wer möchte nicht in Schräglage akrobatische Kunststücke zeigen, anstatt gefrustet, weil unbeachtet, herumhängen. Lieber wie Asphaltpiloten in aberwitzigen Manövern den riskanten Augenblick kreativ bewältigen, statt total immobil irgendwo Schlange stehen. Besser oben auf dem Podium als nach unten durchgereicht.

Nur Sekunden trennen Stoner und Rossi auf speziellen Qualifyer-Slicks von den Letzten im Starterfeld. Und wie im Rennen entscheiden auch im richtigen Leben oft nur Millimeter oder Tausendstel über Gewinner und Verlierer. Am Lenker frönen wir daher der liebsten Illusion, die Sache im Griff zu haben. Mit eigener Hand, authentisch, will ich Agent des Glücks statt Patient von Pech sein. So spiegelt uns das mechanische Kabinett, warum mechanisch im Griechischen auch unbeschämbar sein bedeutet. Ein Renngerät, ein metallener Schorf auf der Wunde so mancher Scham? Mit Tacho und Drehzahlmesser verbündet, fliegt Ikarus davon. Der Rest ist Sex und Kirmes. Denn mit Dogma und Konsum gibt die mobile Lust keine Ruhe.

Der Göttin Geschwindigkeit huldigen

So beschert die wilde Jagd den Helden Schampus, Titel, Ruhm und Geld. Uns aber den Rummel als Ventil, im Circuit statt im Verkehr aus der Haut zu fahren: Brot und Spiele. Lieber behelmt in popigem Leder wider die farblose Tristesse fliehen als Krieg und Terror. Viele Kids toben sich zwar lieber virtuell im Internet und an Spielkonsolen aus, als in der Abenteuern der mechanischen Erregung. Doch wie die Fans am Ring huldigen auch sie der Göttin Geschwindigkeit. Und dem belebenden Gefühl sich frei zu fühlen, ein Millimeter über dem Boden nicht in die Knie zu gehen, sondern mit dem Knie zu denken.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: