Durchs Gebirge mit dem Mercedes SL:Ein letztes Mal übers Timmelsjoch

Der erste Schnee ist schon da und hat alle Wege geschlossen: Die meiste Zeit des Jahres ist das Timmelsjoch gesperrt. Doch vor dem Wintereinbruch sind wir den Gebirgspass noch einmal gefahren. Der nächste Frühling kann kommen.

Jörg Reichle

Durchs Gebirge mit dem Mercedes SL: Stock und Stein: Im Bereich der Passhöhe, auf 2500 Meter über dem Meer, führt die Timmelsjoch-Hochalpenstraße durch eine karge Welt.

Stock und Stein: Im Bereich der Passhöhe, auf 2500 Meter über dem Meer, führt die Timmelsjoch-Hochalpenstraße durch eine karge Welt.

(Foto: Jörg Reichle)

Die erste Begegnung wäre um ein Haar auch die letzte gewesen. Es war wohl noch in den Sechzigern, als die Eltern beschlossen hatten, mit dem schon etwas klapprigen Mercedes gen Süden zu fahren. Übers Timmelsjoch sollte es gehen, damals eine echte Herausforderung: engste Kehren, bösartige Anstiege, über weite Strecken Schotterbelag. Und längs der engen Piste, kaum gesichert, lauerte der Abgrund. Auf der Festplatte der Kindheitserinnerung hat sich bis heute das prekäre Bild eingebrannt: Die Fahrbahn in Regen und dichtem Nebel, in einer Kehre muss Vater zurücksetzen, weil der Postbus entgegenkommt. Gerät ins Rutschen, gleich wird der Abgrund kommen. Alles schweigt im Wagen, Vater, Mutter, Kind. Minutenlang pure Angst.

Am Ende ging irgendwie doch alles gut. Aber vielleicht musste es deshalb jetzt noch mal ausgerechnet das Timmelsjoch sein, um zwischen Österreich und dem milden Südtirol, zwischen Ötztal und Passeiertal Abschied von der Pass-Saison zu nehmen, bevor noch, wie jedes Jahr, die weißen Massen für Monate den Weg in den Süden verbauen.

Freilich, für die Eiligen lassen sich die Alpen als natürliches geografisches Hindernis zwischen Nord und Süd längst in Tunnels und im Schutz stabiler Galerien ohne große Höhenunterschiede unterfliegen - weitgehend unabhängig von den Launen der Natur und in einem Bruchteil der Zeit, die der mühevolle Weg über die Berge kostet. Den wiederum suchen die Genussmenschen, die Erlebnishungrigen. Auch die hinterm Steuer. Oder auf Motorrädern. Oder gleich mit dem Fahrrad.

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Allzeit souverän dank kräftigem V8-Motor und feinen Fahreigenschaften: im Mercedes SL durch die Alpen.

(Foto: Jörg Reichle)

Wie viele Alpenpässe es genau gibt auf den gut 750 Kilometern in Ost-West-Richtung und den 300 Kilometern von Nord nach Süd, darüber gehen die Angaben auseinander. 218 Gebirgspässe in Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, der Schweiz und Slowenien, die mindestens eine Höhe von 1000 Metern über dem Meeresspiegel erreichen, listet allein Wikipedia auf. Eine Bilanz persönlicher Höhepunkte veröffentlicht dagegen unter www.alpenpass.com ein besonderer Pass-Liebhaber: "Seit 1993 habe ich 283 verschiedene Alpenpässe insgesamt 1109-mal überquert und dabei bis heute rund 85 000 Kilometer mit dem Pkw zurückgelegt." Auf seiner Website stellt der Mann im Höhenrausch nun 267 Pässe und Hochstraßen vor. Das klingt nach Suchtpotenzial und tatsächlich durchzieht die Fülle der Alpenpass-Literatur, mehrheitlich verfasst von enthusiastischen Bikern aller Art, eine sehr spezielle Art der Leidenschaft. Über das Timmelsjoch liest man da tabellarisch nüchtern unter www.alpenpassbiker.de: "Gut bis sehr gut ausgebaute Passstraße mit Randabsicherung an Gefahrenstellen, sowie Lawinengalerien und Tunnel. Straßenbelag: grauer und schwarzer Asphalt, staubfrei, Belag auf der italienischen Seite schlechter."

Solchermaßen vorbereitet, nimmt man das Timmelsjoch an diesem restwarmen Oktobertag in Angriff. Das Laub glüht gelb und orange unter blauem Himmel, Lärchen haben sich noch mal herausgeputzt, als wüssten sie, dass es für lange Zeit das letzte Mal sein wird. Vom österreichischen Zwieselstein aus steigt die Strecke zunächst in lang gezogenen Kurven in Richtung Passhöhe an. Von "autobahnähnlichem Ausbau" hatten die Zweirad-Aficionados geschrieben, und das war beileibe nicht als Kompliment gemeint, eher als Warnung vor fahrerischer Langeweile. Außerdem verlangen die Österreicher für ihren Teil des Passes eine gehörige Maut und zücken, wie man weiß, nur allzu gerne ihre Radarpistolen. So dient die Westrampe vor allem zum fahrerischen Warm-up. Das Dach des Mercedes SL ist versenkt, der V8 begleitet den gemächlichen Aufstieg mit wohligem Brummen. Mit dem Gewinn an Höhe öffnen sich allmählich die Baumbestände, das Karge gewinnt die Oberhand.

Mit Pickel, Schaufeln und Schubkarren

Der faszinierende Blick auf die umliegenden Gipfel täuscht nicht darüber hinweg, dass die Alpen ein Lebensraum sind, der Menschen hart macht, das war im Oktober 1955 erst recht so. Damals galt der Bau der Hochalpenstraße durch "die tiefste unvergletscherte Kerbe im Alpenhauptkamm zwischen Reschen- und Brennerpass" als Zäsur für den Übergang vom manuellen zum mechanisierten Straßenbau. Doch ungeachtet der Unimogs, Planierraupen, Lastwagen und Bagger verlangte das alpine Umfeld den Arbeitern alles ab. Mit Pickel, Schaufeln und Schubkarren errichteten sie den Grund- und Oberbau der Straße, schichteten Stein für Stein - immer zwischen Mai und November, dann unterbrach die Natur allwinterlich das mühevolle Werk. Nach vier Jahren, am 17. Juli 1959, wird die neue Passstraße eingeweiht. Die ersehnte Verbindung mit Südtirol lässt allerdings noch neun Jahre auf sich warten, obwohl es auf der steilen Südrampe schon eine Militärstraße gibt, die Mussolini in den Dreißigerjahren errichten, aber die weiteren Arbeiten 1939 einstellen ließ.

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Das Timmelsjoch verbindet das Öztal mit dem Passeiertal.

(Foto: Jörg Reichle)

Die italienische Seite von St. Leonhard hinauf Richtung Passhöhe ist noch heute die echte Herausforderung an die Fahrkunst - eng, bis an die zwölf Prozent steil, teilweise wellig der Belag. Der V8 mit seinen 435 PS nimmt das mit Gleichmut, im Rhythmus zwischen den Kehren, die hier Tornante heißen und üblicherweise mindestens 150 Grad eng sind, steigert er sich schnell zur Euphorie. Der Fahrer wechselt die Gänge der Automatik jetzt in Eigenregie per Wippe am Lenkrad, und das elektronisch gestraffte Fahrwerk nimmt das Links-rechts-Spiel freudig auf. Dröhnend bricht sich der Bass des Motors an den näher rückenden Felsen, umso lauter, je höher die enge Straße emporklettert. Einst waren die Passhöhen von Wagen mit kochenden Kühlern gesäumt. Heute belässt es der SL auf 2509 Metern Höhe mit einem hitzigen Knistern des Auspuffs.

In der Nacht darauf fällt Schnee, viel Schnee. Das Timmelsjoch wird geschlossen. Aus Sicherheitsgründen, wie es heißt. Bis zum nächsten Frühling.

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