Bildung:Wie bei armen Leuten

Die Grundschule wird 100 Jahre alt. Einst war sie ein gewaltiges Reformprojekt, heute leidet sie unter vielen Mängeln, die eigentlich längst als überwunden galten. Für ihr größtes Problem aber kann sie gar nichts.

Von Susanne Klein

Frank-Walter Steinmeier sagt: Hundert Jahre Grundschule, das ist ein Grund zum Feiern. Zu einer wirklichen Erfolgsgeschichte sei die Grundschule in dieser Zeit geworden. Nikolaus Krost sagt: Dass wir 2019 in den Grundschulen wieder ähnlich wie in den Nachkriegsjahren dastehen, ist ein Armutszeugnis für Deutschland. Erfolgsgeschichte, Armutszeugnis - so gegensätzlich sind die Urteile, dass sie sich eigentlich ausschließen. Oder nicht? Lobt der Bundespräsident mit gutem Grund, und schimpft der Pensionär aus Koblenz ebenfalls zu Recht?

Steinmeier, Jahrgang 1956, spricht seine wertschätzenden Sätze Mitte September am Marmorpult der Frankfurter Paulskirche. Ein Festakt, kein Stuhl bleibt frei; der Bundespräsident erinnert in seiner Jubiläumsrede daran, wie 1919, nach heftigem Streit der politischen Gegner, in der Weimarer Verfassung die allgemeine Schulpflicht und die "für alle gemeinsame Grundschule" verankert wurden. Revolutionär war das damals, so kurz nach dem Kaiserreich: die Kinder der Wohlhabenden mit Armeleutekindern in einem Klassenzimmer. Obwohl Oberschichteltern die Einheitsschule oft umgingen, war doch mit ihr eine demokratische Institution geboren.

Nikolaus Krost, Jahrgang 1938, hat einen anderen Blickwinkel. Drei Tage vor Steinmeiers Auftritt liest der Ruheständler in der Zeitung vom Lehrermangel, der die Grundschulen noch stärker betrifft als ohnehin erwartet. Es ist ein trauriges Geschenk zum hundertsten Geburtstag: Mindestens 26 300 Lehrerinnen und Lehrer werden wohl in den Schulen für die Jüngsten bis 2025 bundesweit fehlen, sagt eine neue Berechnung voraus. Krost regt das auf, "verlottert" findet er die schlechte Planung der Bildungspolitiker. Sein Vergleich mit der Nachkriegszeit ist polemisch zugespitzt, aber nicht aus der Luft gegriffen, findet er. Denn was fehlende Lehrer für Schüler bedeuten, hat er damals selbst erlebt.

Schulklasse von 1919

Mädchenklasse in Berlin 1919: Heute sagt der Bundespräsident, er habe "einen Riesenrespekt" vor der Arbeit der Grundschullehrer.

(Foto: Scherl/SZ Photo)

Als der Bauernsohn aus der Eifel im August 1945 in die zweite Klasse kommt (die erste war in den letzten Monaten des Krieges großenteils ausgefallen), beginnt für ihn eine entbehrungsreiche Schulzeit. Eine Dorfschule mit mehr als 80 Kindern, acht Jahrgangsstufen in einem Raum, ein Holzofen, kein Geld für Schreibpapier. Ein einziger Lehrer, der alles macht. Deutsch, Mathe, Geschichte und Erdkunde unterrichten, mit den Kindern singen und auf Wandertage gehen, in der Kirche die Orgel spielen. "Allerhöchsten Respekt habe ich vor diesem Allrounder", sagt Krost heute. Dennoch sei seine Schulausbildung "desolat" verlaufen. Der Lehrer kann sich schließlich nicht zerreißen. Also sind die besten Siebt- und Achtklässler, zu denen später auch Krost aufsteigt, seine Hilfslehrer. Sie unterrichten die ersten vier Klassen, der Lehrer die letzten vier. Was die Hilfslehrer dabei verpassen, müssen sie sich selbst draufschaffen.

Damit hat Krost in extremer Weise erfahren, was die Babyboomer in den 60ern, wenn auch weniger drastisch, ebenfalls erleben mussten - dass ihre Lehrer nicht genug Zeit für sie hatten. Damals stellt jemand anderes Deutschland ein Armutszeugnis aus: Der Pädagoge Georg Picht diagnostiziert eine "Bildungskatastrophe". Wie ein Lauffeuer geht das Wort durchs Land, hektisch werden Notprogramme ersonnen, Behelfslehrer mit Kurzausbildung in den Staatsdienst übernommen. Dass die heutigen Kultusminister aus dieser historischen Misere nichts gelernt, sondern trotz der seit 2012 steigenden Geburtenrate erneut einen Kindersegen und die Förderung von Nachwuchslehrern verschlafen haben, erbost nicht nur Krost. Schulleiter, Lehrkräfte, Gewerkschafter und Elternvertreter sind sich einig: Die Grundschule hat Besseres verdient, als schon wieder mit Behelfslehrern notversorgt zu werden.

2019 hält also tatsächlich ein schlechtes Zeugnis bereit - aber für die Bildungspolitik, nicht für die Grundschulen. Und auch nicht für deren Pädagogen. Steinmeier findet ähnliche Worte für sie wie Krost für seinen Dorflehrer: "Ich habe einen Riesenrespekt vor Ihrer Arbeit", sagt er in Frankfurt. Das Versprechen der Weimarer Verfassung, die für alle gemeinsame Grundschule, sei heute an vielen Orten erfüllt, wo Kinder aus unterschiedlichen Milieus zusammenkommen. Allerdings, das verschweigt der Festredner nicht, ist die Vielfalt an etlichen Grundschulen geschwunden und hat an manchen kaum je existiert. Weil diese Schulen die sozial polarisierten Wohngegenden widerspiegeln, in denen sie stehen.

Bildung: Minus 26300: So viele Lehrkräfte fehlen laut einer Berechnung bis 2025 in deutschen Grundschulen.

Minus 26300: So viele Lehrkräfte fehlen laut einer Berechnung bis 2025 in deutschen Grundschulen.

(Foto: Wolfgang Wein/mauritius images)

Viertel, in denen die Menschen unter sich bleiben, getrennt nach Einkommen, Herkunft, Kultur, sind für die Grundschule ein Riesenproblem, das sie nicht lösen kann. Ohne gerecht verteilte Chancen verliert die einzige bundesweit vertretene Gemeinschaftsschule ihren demokratischen Sinn. Aber selbst an sozialen Brennpunkten kann sie Kindern gute Möglichkeiten bieten, wenn sie pädagogisch auf der Höhe ist. Dafür braucht sie überdurchschnittliche Ressourcen. Der Erziehungswissenschaftler Hans Brügelmann fordert deshalb "reiche Schulen für arme Kinder". Zögerlich setzt die Politik das um. Hamburg stockt bei Schulen in schwieriger Lage die Lehrerstellen auf; Berlin fördert gute Konzepte mit jährlich bis zu 100 000 Euro; ein Bund- Länder-Programm wird Schulen in Not von 2021 an bei ihrer Entwicklung helfen.

Erfolgsgeschichte, Armutszeugnis? "In einer der stärksten Wirtschaftsmächte der Welt müsste es der Grundschule besser gehen", sagt Nikolaus Krost. Ihr größter Erfolg ist daher wohl, dass es sich hundert Jahre nach ihrer Erfindung immer noch lohnt, für sie zu kämpfen. Weil es eine bessere Schule für die Jüngsten bis heute nicht gibt.

Susanne Klein ist Bildungsredakteurin im Ressort Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung.

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