Olympische Spiele:Alles Fassade

Olympische Spiele: Sieht doch gleich schöner aus: Olympia-Kosmetik, hier im Sommer 2016 in Rio de Janeiro.

Sieht doch gleich schöner aus: Olympia-Kosmetik, hier im Sommer 2016 in Rio de Janeiro.

(Foto: Matt Dunham/AP)

Wie reagiert der deutsche IOC-Präsident Thomas Bach auf Russlands gigantischen Doping-Betrug? Mit Pseudo-Sanktionen. Die olympische Idee wird beschädigt. Doch letztlich ist es konsequent für eine Organisation, die den schönen Schein vermarktet.

Essay von Claudio Catuogno

Thomas Bach saß auf einer kleinen Insel, um ihn herum glitzerte die Miniatur einer Seenlandschaft. Im Hintergrund die Andeutung von Pagoden und Tempeldächern. Der erste Eindruck: Könnte ein besonders lieblicher Platz in der Altstadt von Peking sein. War in Wahrheit aber ein Freiluft-TV-Studio, vom ZDF in einen Hotelgarten gezimmert für die Olympia-Übertragungen im Sommer 2008. In der Altstadt von Peking hatte man vieles, was nach traditionellem China aussah, im Vorfeld dieser Spiele mit Bulldozern niedergewalzt, aber das Fernseh-China sah tadellos aus. Schon die Kulisse also: ein kleines Lehrstück über Schein und Sein.

Thomas Bach, ehemaliger Fechter aus Tauberbischofsheim, war damals noch nicht der IOC-Präsident, er war der oberste deutsche Sportführer, und im Olymp war er der zweite Mann hinter dem belgischen Arzt Jacques Rogge. Bach gegenüber saß der couragierte ZDF-Journalist Michael Steinbrecher, und der stellte ihm nun all die Fragen, die notwendigerweise gestellt werden mussten, auch schon 2008 in Peking. Zensur. Zwangsumsiedlungen. Gigantismus. Propaganda. Doping.

Vor allem die Doping-Passage des TV-Interviews von damals weist auf beklemmende Weise hinein in die Gegenwart.

Der Urinproben wandern nachts durch ein Loch in der Wand

Folgendes war geschehen: Der IOC-Präsident Rogge war in Peking von Journalisten gefragt worden, ob er glauben könne, was Dopingbekämpfer schon damals vorrechneten: dass in manchen Disziplinen sicher 50 Prozent der Medaillengewinner gedopt an den Start gehen. Und Rogge hatte sinngemäß geantwortet: Ich weiß es nicht, aber wenn es so wäre, dann wäre das nicht mehr mein Sport. Es war ein Moment des Zweifels, der Offenheit. Authentisch. Rogge hatte einen Spalt breit eine Tür geöffnet: Man sah das Leiden eines um Integrität bemühten Funktionärs, der sein Produkt, Olympia, nicht nur fest umklammert sah vom Pekinger Propaganda-Apparat - sondern noch dazu vom um sich greifenden Pharmabetrug.

Und da saß nun also Thomas Bach auf der Insel und knallte die spaltbreit geöffnete Tür wieder zu.

50 Prozent Doper? Nein, da könne er das deutsche Publikum wirklich beruhigen, sagte Bach. Man habe tolle Anti- Doping-Agenturen, zum Beispiel die deutsche Nada, man unterhalte ein engmaschiges Kontrollsystem. Nur ein Prozent der genommenen Proben sei positiv. Und selbst wenn man da jetzt die Dunkelziffer doppelt so hoch ansetze, also sehr, sehr hoch, würde man ja immer noch bloß bei zwei Prozent gedopten Sportlern landen.

Also, liebes Publikum: 98 Prozent sind sauber! Wir haben alles unter Kontrolle!

Man erinnert sich heute an diesen Moment, weil er beim Zusehen so wehtat. Thomas Bach unter einer künstlichen Pagode, heute würde man sagen: einer Fake-Pagode, umgeben von einem Fake-See, wie er um jeden Preis die Fassade aufrechterhalten will. Auch um den Preis, dass man ihm kein Wort glauben kann.

Es ist ja das eine, als Sportfunktionär das wahre Ausmaß des Dopingproblems ein bisschen herunterzuspielen. Das Kontrollsystem als wehrhafter darzustellen, als es tatsächlich sein kann in einer Welt, in der Olympia-Medaillen immer schon mehr waren als ein Stück Metall an einer Schnur. In der Labore, Ministerien, Geheimdienste, Universitäten daran arbeiten, heimischen Sportlern einen versteckten Vorteil zu verschaffen im Namen des Vaterlands. Wenn die Sportler (oder ihr Umfeld) nicht gleich aus eigenem Antrieb die nötige Infrastruktur schaffen, um den Fahndern einen Schritt voraus zu sein.

Aber es ist etwas anderes, die Realitäten so radikal abzustreiten, wie Bach es tat.

Man erinnert sich heute an diesen Moment, weil letztlich auch Thomas Bach, unfreiwillig, einen Blick durch eine Tür erlaubte: die Tür zu seinem Amtsverständnis als Sachwalter der olympischen Idee. Man konnte sehen, wie weit Bach bereit ist zu gehen, um den Schein zu wahren. Man muss das so hart sagen: Angst vor der Lüge ist eher nicht sein Problem.

Es wäre mal was Neues: Dass dem Olympia-Publikum die Wahrheit erzählt wird

Neuneinhalb Jahre später. Thomas Bach ist IOC-Präsident. Die Sportgemeinde ist auf dem Sprung nach Pyeongchang, Winterspiele in Südkorea. Aber wie viel ist noch übrig von der olympischen Idee? Vom olympischen Geist? Hinter der koreanisch-koreanischen Grenze sitzt ein Menschenunterdrücker auf Atomraketen, was einen beunruhigen müsste, wenn man denn dazu käme, darüber nachzudenken. Aber da ist halt gerade auch noch diese (wenn auch nur für den Sport existenzbedrohende) Vertrauenskrise, in die Thomas Bach das IOC manövriert hat.

Die Russland-Krise.

In dieser Woche musste der IOC-Chef eine angemessene Antwort finden auf die größte Attacke, die gegen Olympia und seine Werte seit Ende der Hochdopingzeiten in den 1980er-Jahren geführt wurde: das russische Staatsdoping-Projekt mit mehr als tausend involvierten Athleten, das seinen Höhepunkt bei den Winterspielen 2014 in Wladimir Putins Urlaubsort Sotschi fand. Bach wählte markige Worte am Montag in Lausanne, er sprach von einem "noch nie da gewesenen Angriff auf die Integrität des Sports und der Olympischen Spiele". Und für ein paar Stunden gewann die Öffentlichkeit tatsächlich den Eindruck, das IOC habe als Reaktion auf den Skandal Russland von den Pyeongchang-Spielen ausgeschlossen. Aber je tiefer man dann in die Details guckte, desto klarer wurde: Was als wehrhafte Reaktion im Sinne der sauberen Athleten verkauft wurde, ist in Wahrheit: ein Pseudo-Ausschluss. Eine Fake-Sperre. Simulierte Härte. Bach'sche Fassade. Wieder mal.

Und plötzlich kommt einem der Peking-Bach von 2008 erschreckend avantgardistisch vor. Wie ein Vorbote all dieser furchterregenden Führungsfiguren der Gegenwart (bloß weniger charismatisch, was aber kein Problem ist, weil man im IOC nicht die Massen verführen muss, sondern bloß einen elitären Zirkel mit flexiblen Argumenten überzeugen). Ist die Welt inzwischen nicht voll mit solchen Typen? Donald Trump, der den Nahen Osten in Flammen setzt, dabei aber erzählt, er schaffe Frieden. Oder, zugegebenermaßen ein paar Nummern kleiner: Markus Söder, der tatsächlich nicht lachen musste, als er kürzlich im "Heute-Journal" kundtat, es gebe gar keinen Machtkampf in der CSU. Während er den Dolch noch im Gewande führte.

Dolch? Welcher Dolch?

Doping? Welches Doping?

Der Bach von 2008, das war quasi die vorweggenommene Gegenwart des Jahres 2017 mit all ihren Politik-Schauspielern, denen es nur um die Wirkung geht, nicht um die Sache, und wenn doch mal um die Sache, dann um die eigene.

Wäre Olympia nicht so eine berührende Idee - die Jugend der Welt versammelt sich unter einem Dach zum friedlichen Wettkampf -, wären die Spiele nicht der Lebenstraum so vieler Athleten, und würden diese Sportler nicht tatsächlich so tief in eine zunehmend bewegungsfaule Gesellschaft hineinwirken mit ihren Erfolgen und Emotionen - fast müsste man es mit Genugtuung sehen, wie die olympische Fassade gerade bröckelt.

Ohne Ironie ist das ja nicht: Da wird 2013 der Fassadenmann schlechthin IOC-Präsident. Und was kriegt er kurz nach seinem Amtsantritt, 2014 in Sotschi, von den Russen untergejubelt? Eine Illusion.

Ein Labor in Sotschi. Draußen auf dem Türschild steht, es handele sich um ein Anti-Doping-Labor. Es ist aber zugleich auch ein Doping-Labor. Es hat - da materialisiert sich das Bild von der Fassade geradezu - ein verstecktes Loch in der Wand, bewacht von einem Geheimdienst-Agenten, den seine Akkreditierung als Kanalarbeiter ausweist. Und wenn am Abend die frischen Röhrchen mit dem Urin kommen, werden die Proben der russischen Helden aussortiert und auf die andere Seite geschoben, dort mit einer eigens erdachten Methode geöffnet, ohne die Siegel zu beschädigen - und statt der kontaminierten Körpersäfte wandern saubere ins Glas, die vorab extra eingesammelt und katalogisiert wurden. Wofür die Räuberpistole? Damit Russland am Ende der zwei Winterwochen die Nummer eins im Medaillenspiegel ist. Fake-Siege. Fake-Jubel. Fake-Nationalstolz.

Bloß: Der Urin, der in Sotschi nachts die Seite gewechselt hat, ist ja nur das Symptom des Problems. Ursache des Schlamassels ist, dass auch viele Funktionäre von der hellen auf die dunkle Seite gewechselt sind. Wenn aber der Schein zum Kern des Geschäfts geworden ist: Kann man sich da jetzt wundern über eine Sanktion, die auch bloß den Schein wahren soll?

Tatsächlich werden russische Athleten in Pyeongchang gar nicht als neutrale Athleten starten müssen, wie zunächst insinuiert - auf ihren Uniformen wird "Olympic Athletes from Russia" stehen. Und das IOC behält sich vor, zur Schlussfeier selbst diese Einschränkung aufzuheben, sofern sich die "Olympischen Athleten aus Russland" schön an die Auflagen halten. Was zur Anschlussfrage führt: Welche Auflagen sind das eigentlich genau? Tja.

Das Mindeste wäre doch gewesen, von den Russen zu verlangen, das gigantische Betrugsnetzwerk wenigstens einzugestehen. Damit etwas in Zukunft nicht mehr passieren kann, muss man sich ja erst mal darüber einig sein, dass es passiert ist. Aber in Moskau dürfen Politiker und Sportfunktionäre weiter behaupten: Alles eine Verschwörung des Westens!

Thomas Bach scheint das nicht weiter zu stören. Andererseits, das wäre ja nun wirklich mal was Neues: zu verlangen, dass dem Olympia-Publikum die Wahrheit erzählt wird.

Die Wahrheit? Das Kontrollnetz ist engmaschig! 98 Prozent der Athleten sind sauber! Und wenn die Spiele in Pyeongchang erst eröffnet sind, ist der Weltfrieden nur noch eine Frage der Zeit!

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