Andere Inhaftierte:Warum der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte der Türkei mehr Zeit gibt

Deniz Yücel

Der Welt-Journalist Deniz Yücel.

(Foto: dpa)
  • Drei Wochen mehr Zeit gibt der EGMR der türkischen Regierung, um zu erläutern, warum der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel seit Februar in Untersuchungshaft sitzt.
  • Die Zurückhaltung des Gerichtshofes liegt zum einen an der Fülle der Verfahren: Fast 31 000 Beschwerden sind seit dem Putsch vom Juli 2016 in Straßburg eingegangen.
  • Dass der Gerichtshof gerade mit der Türkei so umsichtig umgeht, hat aber auch mit der Geschichte zu tun und mit der fundamentalen Krise, in der der EGMR steckt.

Von Wolfgang Janisch

Am 24. Oktober wäre die Frist abgelaufen, doch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sie um drei Wochen verlängert. Drei Wochen mehr Zeit also für die türkische Regierung, um vielleicht doch noch zu erläutern, warum genau der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel seit Februar in Untersuchungshaft sitzt, worauf sich der ominöse Verdacht von Terrorpropaganda und Aufstachelung zum Hass stützt - und was das eigentlich mit einem rechtsstaatlichen Verfahren zu tun haben soll.

Drei Wochen für ein Land auf rechtsstaatlichen Abwegen, in dem nach Peter Steudtners Freilassung mindestens noch zehn deutsche Staatsbürger aus politischen Gründen inhaftiert sind, darunter Meşale Tolu. Übersieht der Gerichtshof, wie dringlich die Angelegenheit ist?

Hinter der scheinbaren Routine verbirgt sich in Wahrheit ein hohes Maß an Anspannung. Der Gerichtshof arbeitet längst an den türkischen Fällen. Fast 31 000 Beschwerden sind seit dem Putsch vom Juli 2016 in Straßburg eingegangen, gut 6600 sind noch anhängig. Ein kleiner Teil der Verfahren - etwa der Fall Yücel - wird mit Priorität behandelt. Auch die Klagen von zehn inhaftierten Journalisten der Zeitung Cumhuriyet sowie weiterer Journalisten und einiger Abgeordneter haben Vorrang.

Könnte die Türkei bald so wie Russland handeln?

Und doch hält sich der Gerichtshof mit beinahe aufreizender Akribie an Verfahrensregeln. Man sieht das an den Klagen entlassener Beamter: Sie werden derzeit als unzulässig abgewiesen, weil zunächst der Rechtsweg in der Türkei beschritten werden muss - oder wenigstens ausgetestet, ob es einen Rechtsweg gibt, der den Namen verdient. Gleiches gilt für die Fristverlängerung: Was man anderen Ländern gewährt, muss auch für die Türkei gelten.

Dass der Gerichtshof gerade mit der Türkei so umsichtig umgeht, hat sicher auch mit der Geschichte zu tun. Die Türkei ist seit 1949 Mitglied im Europarat, dem das Menschenrechtsgericht angegliedert ist - und hatte in der frühen Phase der Erdoğan-Regierung sogar eine ganz positive Menschenrechtsentwicklung durchlaufen. Man möchte deshalb die Tür nicht zu früh zuschlagen.

Wichtiger aber ist etwas anderes. Das Gericht befindet sich derzeit in einer fundamentalen Krise. Es grenzte ohnehin immer an ein Wunder, dass sich - weit über die EU-Grenzen hinaus - die 47 Staaten des Europarats der Europäischen Menschenrechtskonvention unterworfen haben. Doch das Wunder hat an Kraft verloren. Die Erosion rechtsstaatlicher Strukturen und die Renaissance autoritärer Regime setzt inzwischen auch dem Menschenrechtsgericht zu. Wichtigstes Beispiel: Russland setzt Straßburger Urteile nur noch nach eigenem Gutdünken um.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum die Post-Putsch-Verfahren aus der Türkei so essenziell für den Gerichtshof sind. Einerseits will das Gericht die Absetzbewegung nicht beschleunigen, indem es sich angreifbar macht; die Türkei ist, neben Russland, nun mal der entscheidende "Mehrwert" des Europarats gegenüber der EU. Deshalb agiert man rechtsstaatlich bis in die Haarspitzen.

Andererseits würde das Gericht die eigene Autorität untergraben, wenn es ihm nicht gelänge, auf den atemberaubenden Abbau der Menschenrechte in der Türkei zu reagieren. Denn Menschenrechte, die nur auf dem Papier stehen, brauchen kein Gericht.

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