Literatur:"Ich glaube, die Leute wären schnell dazu bereit, einander an die Kehle zu gehen"

Portrait of Virginie Despentes 24 11 2014 PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxHUNxONLY Copyright Jean Franco

So sei das eben mit dem launenhaften Literaturbetrieb, sagt Virginie Despentes: Erst werde man als pornografische Krawallfeministin abgestempelt, dann als Frankreichs Krisenorakel gehandelt.

(Foto: Leemage/imago)

Eigentlich wollte Virginie Despentes einen "kleinen, schmutzigen Abstiegsroman" schreiben. Es wurde eine Trilogie über die kollektive Depression der französischen Gesellschaft.

Porträt von Alex Rühle

Einer dieser Pariser Sommernachmittage, an denen draußen auf den Straßen der Teer zu fließen beginnt. Im Café de l'Industrie im elften Arrondissement stehen alle Fenster und Türen offen, die Leute hängen apathisch in der Hitze rum, als plötzlich ein Aufmerksamkeitszittern durch den Raum läuft. Das ist deshalb bemerkenswert, weil die Pariser eigentlich sehr souverän im Umgang mit Prominenten sind, indem sie einfach so tun, als würden sie sie nicht erkennen. Virginie Despentes aber muss erst mal durch ein Spalier derart penetrant bewundernder Blicke, dass sie irritiert an sich herabsieht, ob alles mit ihrer Garderobe stimmt.

Im Verlauf der nächsten Stunde kommen drei Frauen an den Tisch und fragen nach Autogrammen. Irgendwann steht sogar die Café-Besitzerin da, mit ihrer Ausgabe des dritten Bandes von "Vernon Subutex". Ob Despentes einen Satz reinschreiben könne, ihr Sohn lese schon lange nicht mehr, die Videospiele, das Handy, Sie wissen schon, aber das hier, das wolle sie ihm zum 18. schenken, da sei nun mal "unsere ganze Zeit in kondensierter Form drin".

Unsere ganze Zeit. Par bleu ... Man sollte vorsichtig sein mit zeitdiagnostischen Weihen. Man sollte auch skeptisch werden, wenn die Pariser Feuilletons eine Trilogie mit Balzacs 91-bändiger Comédie humaine vergleichen. Virginie Despentes lässt all solche olympischen Vergleiche mit ironischer Skepsis an sich abgleiten. So sei das eben mit dem launenhaften Literaturbetrieb, erst werde man als pornografische Krawallfeministin abgestempelt, jetzt als Frankreichs Krisenorakel gehandelt. Was sie selbst viel mehr erstaunt, das ist die eigenständige Kraft von literarischen Texten. "Ich wollte einen kleinen, schmutzigen Abstiegsroman schreiben. Was soll einem arbeitslosen Plattenverkäufer schon groß passieren. Als ich es dann aneinandergehängt habe, hatte ich ein Monster im Rechner. Weit über 1000 Seiten." Sie wollte kürzen, ihr Lektor sagte, auf keinen Fall, das ist eine Trilogie - et voilà. In Frankreich erschien diesen Sommer der dritte Teil, auf Deutsch ist seit dieser Woche der erste Teil erhältlich (Das Leben des Vernon Subutex. Deutsch von Claudia Steinitz. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 400 Seiten, 22 Euro. E-Book 18,99 Euro.).

Im Napster-Tsunami geht, in Sekunden, auch Vernons Plattenladen "Revolver" unter

Vernon Subutex hatte mal einen Plattenladen. Seinerzeit, in den fernen Neunzigerjahren, war das "Revolver" einer der angesagtesten Orte in Paris. Bis das Internet kam. "Vernon saß zwar an der richtigen Stelle, um das Ausmaß des Napster-Tsunamis zu erfassen, aber er hätte sich nie vorgestellt, dass in Sekunden das ganze Schiff untergeht", heißt es auf einer der ersten Seiten. Subutex muss seinen Laden schließen und kann die erste Zeit noch mit Gelegenheitsjobs und Ebay-Verkäufen seiner Sammlung überleben. Dann stirbt Alex Bleach, ein Rockmusiker, der auf Gainsbourg für Teenies machte und der dem Freund aus alten Tagen heimlich die Miete zahlte. Subutex fliegt aus seiner Wohnung. Er, der sich seit dem Verlust seines Ladens in einer Einsamkeit vergraben hat, die unmerklich nach alter Wäsche zu muffeln begann, ist gezwungen, über Facebook Kontakte zu vergessenen Freunden, Stammkunden, Exgeliebten aufzunehmen. So beginnt eine Odyssee über die Sofas von Paris und damit quer durch die französische Gesellschaft.

Es ist diese Grundkonstruktion eines Helden, der durch alle Schichten und Milieus driftet, die so viele französische Leser an die Comédie humaine denken lässt. Balzac wollte seinerzeit "eine Naturgeschichte unserer Gesellschaft zeichnen". All die Personen, die er erfand, sollten "dem innersten Wesen ihres Jahrhunderts abgelauscht" sein. Despentes hört sich den Balzacvergleich mit einer Miene an, als habe man ihr einen Lorbeerkranz aus Plastik rübergereicht. Dann sagt sie mit ihrer raspelrauen Stimme, die nach viel Nikotin klingt, aber vielleicht auch aus den Zeiten stammt, als sie selbst tagsüber in einem Plattenladen jobbte und abends mit einer Rap-Band unterwegs war, sie hätte das alles nicht irgendeinem innersten Wesen, sondern Facebook abgelauscht. "Vor zehn Jahren hatte ich keine Ahnung, was Islamisten oder Anhänger des Front National denken. Heute kann ich es permanent lesen. Dass man täglich bombardiert wird mit Meinungen, die man nicht ansatzweise teilt, ist verstörend. Ich wollte all dieses Chaos in einem Buch bündeln."

Wenn all diese soziologischen Elementarteilchen etwas eint, dann die Empörung

Ein verspießerter Drehbuchautor, der gegen Migranten wettert. Ein transsexueller Pornodarsteller, ein trinkender Schlägervater, eine ehemalige Gitarristin, die in ihrer eigenen Zweizimmerwohnung hilflos dem eigenen Altern zusieht - nichts wäre leichter, als solche Charaktere zu Parodien ihrer selbst zu machen, einen Popanz zu zeichnen und dann mit entlarvender auktorialer Geste darauf zu zeigen, seht her, was für ein Popanz. Despentes macht das Gegenteil. Jeder ihrer Charaktere wird aus der Innensicht heraus plausibel, meist sogar auf verquere Art sympathisch. Wenn Vernon bei ihnen Unterschlupf findet, taucht der Leser in ihren jeweiligen Bewusstseinsstrom ein, der fast immer einer Tirade gleicht. Ja wenn all diese soziologischen Elementarteilchen überhaupt etwas eint, dann die Empörung. Jeder und jede von ihnen scheint im Verlauf des Lebens irgendwann in den Keller der eigenen Wut hinabgestiegen zu sein, wo er seither im Kreis herumläuft und stänkert.

Genau das war es, was Despentes so verstörte, als sie 2010 nach Frankreich zurückkehrte. Sie hatte vier Jahre in Spanien gelebt, "da hat die Immobilienkrise gewütet, Zehntausende wurden obdachlos, ich hab 60-jährige Lehrerehepaare gesehen, die plötzlich in einem Zelt wohnten". Als Despentes zurückkam, redeten all ihre Freunde so, als sei es hier in Paris viel schlimmer gewesen. "Da kann man sich eine Zeit lang drüber lustig machen. Aber dann hab ich gemerkt, dass die Leute wirklich leiden. Eine Art kollektiver Depression, mit allen Krankheitserscheinungen. Das Gefühl, für immer abgehängt zu sein. Misstrauen, Einsamkeit und Hass auf alle, die anders sind. Bürgerkrieg, so was klingt bizarr und weit hergeholt. Aber ich glaube, die Leute wären mittlerweile schnell dazu bereit, einander an die Kehle zu gehen."

Der erste Band kam am 7. Januar 2015 in die französischen Buchläden, dem Morgen also, an dem die Brüder Kouachi die Räume von Charlie Hebdo stürmten und durch ihr Massaker die französische Geschichte in ein Davor und Danach zerrissen. Die Attentate sind genauso in die Bände zwei und drei eingeflossen wie der Aufstieg Marine Le Pens, die populistische Krise oder die dramatische Gentrifizierungsdynamik, die Paris zu einer Stadt macht, in der heute nur noch leben kann, wer eine Immobilie erbt. Das literarische Wunder ist nun, dass "Das Leben des Vernon Subutex" weder zur misanthropischen Suada noch zum depressiven Oberjammergau wurde. Eher wirkt Despentes in ihrem Schreiben wie die humane Schwester von Houellebecq. Das zynische Säurebad, in das er all seine Figuren legt, ätzt oft auch die letzte Sympathie weg. Mit Despentes' Figuren hat man als Leser leises Mitleid oder muss über ihre Hilflosigkeit in Sachen Vergänglichkeit lachen. Lag nicht gerade noch das Leben vor ihnen allen wie die weit funkelnden Great Plains? Und plötzlich stecken sie in diesen betonengen Biografien fest und müssen Kredite abzahlen. Von Arthrose war in den Songs, die Vernon im "Revolver" verkaufte, auch nie die Rede. "Eben", sagt Despentes. "Diese Kultur bereitet einen wirklich nicht auf Einsamkeit und Alter vor. Umso härter schlägt es dann zu."

Die wenigen Jugendlichen, die Vernon auf seinem Weg in die Obdachlosigkeit trifft, scheinen freilich nicht freier oder glücklicher zu sein als die Eltern. Der eine hat sich den Identitären angeschlossen, und die 16-jährige Aisha trägt Vollverschleierung. Despentes zuckt mit den Schultern. "Ich habe verstörend viele solche Leute kennengelernt, sehr jung, sehr reaktionär, 20-Jährige, die in Gruppen mit fest geschlossenen Weltbildern ihr Heil suchen. Kein gutes Zeichen für die nächsten Jahre." Spricht's, steht auf und geht leichten Schrittes hinaus in den Sommer, wo ihr eine Frau hinterherrennt und einen Strauß knallbunter Zinnien schenkt.

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