Soziologe Stephan Lessenich im Gespräch:Wer für unseren Konsum zahlt

Stephan Lessenich, 2015

"Flucht und Migration werden uns weiter beschäftigen", sagt Stephan Lessenich, Buchautor und Leiter des Lehrstuhls für Soziologie an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität.

(Foto: Catherina Hess)

Wir in Deutschland leben auf Kosten anderer, sagt der Soziologe Stephan Lessenich. Ein Gespräch über Ausbeutung, Migration und Konsumrebellion.

Interview von Jens Bisky

Wir leben nicht über unsere Verhältnisse, sondern über die Verhältnisse anderer das schreibt der Soziologe Stephan Lessenich in seinem Buch "Neben uns die Sintflut". Über dieses Buch kann man sich prächtig ärgern, weil es Illusionen zerstört. Aus demselben Grund kann man sich darüber freuen, weil man nach der Lektüre einiges klarer sieht. Auf der Frankfurter Buchmesse fragten wir Lessenich, der in München Soziologie lehrt, nach dem Leben in der "Externalisierungsgesellschaft".

Lange konnten wir uns nicht entscheiden, ob wir in einer Risikogesellschaft oder einer Erlebnisgesellschaft leben. Dann kam die Müdigkeitsgesellschaft, die Gesellschaft der Angst, die Abstiegsgesellschaft. Jetzt reden Sie von der Externalisierungsgesellschaft. Ist das etwas ganz Neues oder eine alles überwölbende Diagnose?

Externalisierungsgesellschaft - das ist einerseits eine Zeitdiagnose, die aber weiter zurückgreift. Die moderne kapitalistische Gesellschaft beruht seit 500 Jahren darauf, dass sie die Kosten ihrer Produktions-, Arbeits- und Lebensweise in andere Weltgegenden auslagert. Gegenwärtig leben wir andererseits in einer Situation, in der das auf uns zurückschlägt. Den Preis für die Externalisierung haben sehr lange fast ausschließlich Dritte bezahlt. Es könnte sein, dass wir zukünftig stärker zur Kasse gebeten werden.

Das müssen sie mir genauer erklären. Was externalisiere ich als normaler Angestellter denn?

In meinem Buch arbeite ich mit möglichst verschiedenen Beispielen für die Auslagerung von Kosten unserer Lebensweise. Denken Sie an die Textilindustrie, etwa in Bangladesch. Dort herrschen nicht nur übelste Arbeitsbedingungen, von denen wir ab und an mal lesen, wenn es zu Bränden kommt. Diese Textilproduktion ist auch ausgesprochen umweltschädlich. Eine solche Produktion haben wir vor Jahrzehnten selbst betrieben. Inzwischen lagern wir die schmutzige Produktion aus und verbessern damit die Ökobilanz hier zu Hause.

Wir lagern auch unseren Flächenbedarf aus. Wir sind ja irgendwie ganz stolz, dass wir keine agrarische Gesellschaft sind. Aber allein, um den Sojabedarf dieses Landes für ein Jahr zu decken, braucht man die Fläche von Hessen. Das findet dann aber nicht in Deutschland statt. Die Fläche von Hessen wird in Argentinien bebaut. Das zerstört dort gewachsene ökonomische Strukturen, führt zu massiven Umweltschäden, zu einer Schieflage der Wirtschaftsstruktur. Schon mit Ihrem Sojakonsum partizipieren Sie an unserer Externalisierungsgesellschaft.

Wer ist denn diese "wir"? Und wer sind "die anderen"?

Das ist natürlich eine grobe Vereinfachung. "Wir" sind in erster Linie die reichen Gesellschaften des globalen Nordens. "Die anderen", das sind die Gesellschaften des globalen Südens. Das kommt natürlich so einfach nicht hin. Unbestreitbar gibt es auch in den reichen Gesellschaften des Nordens soziale Unterschiede, Ungleichheit. Aber auch die, die schlechter gestellt sind hierzulande, leben in ihren alltäglichen Lebensvollzügen, in dem, was sie für normal halten, in dem, was sie für ihr kleines Glück halten, auf Kosten großer Bevölkerungsmehrheiten des globalen Südens.

Es gibt ja viele Versuche, das im Alltag zu bedenken, zum Beispiel nur fair Hergestelltes zu kaufen. Was hilft es, wenn wir ökologisch und entwicklungspolitisch sensibel konsumieren?

Wenn das alle tun würden, wäre das ein erster Schritt. Aber selbst wenn wir unseren Konsum so umstellen, dass er weniger umweltschädigend ist, leben wir doch insgesamt auf einem Verbrauchsniveau, das ökologisch nicht verträglich ist. Vor allem aber können individuelle Verhaltensänderungen nicht die Lösung sein für Strukturprobleme. Es gibt die Vorstellung, durch Konsumrebellion könnte eine andere Welt entstehen. Ich glaube, das ist nicht der Fall. Wenn man etwas ändern wollte, müsste man durch politisches Handeln Strukturen verändern, beispielsweise das Welthandelsregime oder das Weltklimaregime. Und zwar: zu Lasten der hoch entwickelten Gesellschaften und zugunsten der Gesellschaften, auf deren Kosten wir bislang leben.

Für wie wahrscheinlich halten Sie es denn, dass Menschen gegen ihre alltäglichen Interessen Strukturen verändern, von denen sie spürbar profitieren?

Die Wahrscheinlichkeit ist gering. Aber wir haben in den letzten anderthalb Jahren erlebt, welche Konsequenzen unsere Externalisierungsgesellschaft hat. Flucht und Migration werden uns weiter beschäftigen. Da wir Probleme produzieren, die auf uns zurückschlagen, wäre es im Sinne der Vernunft und der vorausschauenden Einsicht, vom globalen Norden aus umzusteuern. Das wäre im wohlverstandenen langfristigen Eigeninteresse. Langfristige Interessen sind freilich immer schwer anzusprechen und umzusetzen. Ich glaube, die Veränderung wird ohnehin vom globalen Süden ausgehen. Dort gibt es politische Bewegungen, dort gibt es Sozialmilieus, die für eine andere Weltwirtschaftsordnung streiten. Wir täten gut daran, diesen Kampf zu unterstützen.

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